Der Zeitdieb
Madame
Frout gewiss nicht als schlechte Person bezeichnen, und sie versuchte immer, Kinder gut zu behandeln. Aber auf planlose Art war sie auch
dumm. Und an Dummheit wollte Susanne keine Zeit vergeuden.
»Ja, ich habe um einige Tage Urlaub gebeten«, sagte Susanne. »Wegen
dringender Familienangelegenheiten. Natürlich habe ich Aufgaben für
die Kinder vorbereitet.«
Madame Frout zögerte. Auch dafür hatte Susanne keine Zeit. Einmal
mehr schnippte sie mit den Fingern.
»MEINE GÜTE, DAS WÄRE EINE ERLEICHTERUNG«, sagte sie
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mit einer Stimme, deren Schwingungen bis ins Unterbewusstsein
reichten. »WENN WIR NICHT GELEGENTLICH EINE PAUSE
EINLEGEN, GIBT ES BALD NICHTS MEHR, DAS WIR DEN
KINDERN BEIBRINGEN KÖNNEN! SUSANNE VOLLBRINGT
JEDEN
TAG
KLEINE
WUNDER
UND
HAT
EINE
GEHALTSERHÖHUNG VERDIENT.«
Sie lehnte sich zurück, schnippte wieder mit den Fingern und
beobachtete, wie die Worte in den vorderen Bereich von Madame Frouts Selbst sanken. Die Lippen der Frau bewegten sich sogar.
»Nun, äh, natürlich«, murmelte sie schließlich. »Du hast sehr hart
gearbeitet… und… und…« Es gibt einige Dinge, die sich nicht einmal
mit geisterhaften Befehlen bewerkstelligen lassen, und dazu gehört auch, mehr Geld von einer Rektorin zu bekommen. »Eines Tages sollte ich
über eine kleine Gehaltszulage für dich nachdenken.«
Susanne kehrte ins Klassenzimmer zurück und verbrachte den Rest des
Tages damit, kleine Wunder zu vollbringen. So entfernte sie den Kleber aus Richendas Haar, schüttete den Urin aus Billys Schuhen und erfreute die Kinder mit einem Abstecher zum Kontinent Viericks.
Als die Eltern kamen, um sie abzuholen, zeigten sie ihnen mit Buntstift gemalte Känguru-Bilder. Susanne hoffte, dass der rote Staub an ihren Schuhen – bei Billy, dessen Blasenkontrolle noch immer zu wünschen
übrig ließ, war es roter Schlamm – unbemerkt blieb. Wahrscheinlich
brauchte sie sich darüber überhaupt keine Sorgen zu machen. Der
Herrenklub »Zappler« war nicht der einzige Ort, an dem Erwachsene
Dinge übersahen, die unmöglich existieren konnten.
Jetzt lehnte sich Susanne zurück.
Ein leeres Klassenzimmer hatte etwas Angenehmes. Ein angenehmer
Aspekt, so hätten die anderen Lehrerinnen erklärt, bestand darin, dass keine Kinder zugegen waren und insbesondere Jason nicht hier weilte.
Die Tische und Regale wiesen auf ein gutes Halbjahr hin. Die Bilder an den Wänden bewiesen guten Einsatz von Perspektive und Farbe. Die
Klasse hatte ein lebensgroßes Pferd aus Pappkartons gebaut und dabei viel über Pferde erfahren.
Bei der Gelegenheit lernte Susanne Jasons erstaunliche
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Beobachtungsgabe kennen. Sie hatte ihm die Pappröhre wegnehmen und
erklären müssen, dass es sich in diesem Fall um ein feines Pferd handelte.
Ein langer Tag lag hinter ihr. Sie hob die Klappe ihres Pults und holte die Grimmigen Märchen hervor.
Dadurch rutschten andere Unterlagen zur Seite, und zum Vorschein
kam eine kleine Schachtel mit schwarzen und goldenen Ziermustern.
Sie war ein Geschenk von Vincents Eltern.
Susanne starrte auf die Schachtel hinab.
Jeden Tag musste sie dies durchmachen. Wie absurd. Eigentlich
stellten Lecker & Süß gar keine guten Pralinen her. Sie bestanden nur aus Butter, Zucker und…
Susanne suchte zwischen den traurigen Resten aus braunem Papier und
nahm eine Praline. Eine konnte sie sich erlauben; dagegen gab es nichts einzuwenden.
Sie nahm sie in den Mund.
Verdammt verdammt verdammt verdammt ! Die Praline enthielt Nougat ! Ihre einzige Praline an diesem Tag, und es steckte verdammt rosarotes und weißes verdammtes Zeug darin, verdammter Nougat !
Nun, das zählte natürlich nicht.* Sie hatte das Recht, eine andere zu wählen…
Der Lehrerinnenteil von Susanne hatte auch Augen im Hinterkopf und
bemerkte eine schemenhafte Bewegung. Sie wirbelte herum. »Hier wird
nicht mit Sensen herumgerannt!«
Der über den Naturlehrtisch sprintende Rattentod verharrte und warf
ihr einen schuldbewussten Blick zu.
QUIEK?
»Und der Schrank mit dem Schreibmaterial bleibt zu«, sagte Susanne
automatisch. Sie ließ die Klappe des Pults zufallen.
QUIEK!
* Das stimmt. Eine Praline, die man nicht essen wollte, zählt nicht als Praline.
Diese Entdeckung stammt aus dem gleichen Bereich kulinarischer Physik, in dem es heißt, dass im Gehen verspeiste Nahrungsmittel keine Kalorien enthalten.
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»Doch, das wolltest du. Ich habe gehört, wie du daran gedacht hast.« Es war durchaus
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