Der zerbrochene Kelch
wahrscheinlich hatte er sie auch noch nie so sehr verletzt.
»Jetzt komm schon. Willst du ewig wütend auf mich sein? Ich verstehe ja, dass du nicht gut auf mich zu sprechen bist, aber was hätte ich denn sonst tun sollen? Glaub mir, es war die einzig richtige Entscheidung.«
Er merkte, dass seine Worte sie nicht überzeugten. Sie überzeugten ja nicht einmal ihn selbst. In der Zeit, als Michael im Koma lag, hatte er nicht glauben wollen, dass sein Freund sterben würde. Er hätte das nicht ertragen und hatte diese Möglichkeit vollkommen aus seinem Kopf ausgeschlossen, um selbst nicht diesen inneren Schmerz zu spüren, den er durch den Verlust von Kollegen schon oft gespürt hatte. Und Michael war nicht nur ein Kollege, er war sein Freund. Fast wie ein Bruder. In all den Jahren, in denen sie nun schon zusammengearbeitet hatten, waren sie ein eingeschworenes Team geworden. Und wenn es mit Alicia geklappt hätte, wäre Michael sogar sein Schwager geworden. Dann wären sie eine Familie gewesen.
Davidson seufzte. Das hätte ihn wirklich glücklich gemacht, aber es kam eben anders. Insgeheim hatte er noch immer gehofft, dass seine Schwester und Michael zusammenkommen würden.
Doch dann hatte Michael Karen in Paris kennengelernt, mit ihr einige gefährliche Situationen erlebt und sich in sie verliebt, was er gut verstehen konnte, nach allem, was Michael ihm erzählt hatte. Mit Karens Auftauchen waren seine Ambitionen, was Alicia und Michael betraf, wohl endgültig zunichte gemacht. Vielleicht hatte er Karen deswegen unbewusst Steine in den Weg gelegt und sie nicht angerufen, als Michael im Koma gelegen hatte.
Ja, er war selbstsüchtig gewesen und hatte Karen belogen. Aber er war sich sicher gewesen, das Richtige zu tun. Und Michael hatte es ihm bestätigt. Beide hatten sich angesehen und waren einer Meinung gewesen. Aber beide hatten auch gleichzeitig ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie wussten, dass es auch anders hätte ausgehen können.
»Tom?« Karen sah ihn forschend an.
»Ja?«
»Wenn es Michael schlechter gegangen wäre, hättest du mich angerufen?«
Davidson sah zur Seite.
»Tom, antworte mir!«
»Ich … ich glaube schon.«
Karen hätte ihm für diese zögerliche Antwort am liebsten eine Ohrfeige gegeben. Sie knallte den Teller auf den Büfetttisch, drehte sich um und eilte zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen.
»Karen!«, rief Davidson ihr noch hinterher, doch sie war schon im Flur verschwunden. Alicia warf ihrem Bruder einen besserwisserischen Blick zu und eilte Karen nach. Auch Michael, der den kurzen Streit von der anderen Seite des Wohnzimmers her beobachtet hatte, wollte ihr folgen, doch Davidson hielt ihn kurz vor der Tür auf. »Bleib, Alicia ist bei ihr. Vielleicht kann sie sie beruhigen.«
Mansfield hörte im selben Moment die Haustür zuschlagen und zögerte einen Augenblick.
»Was hast du zu ihr gesagt?«
»Nichts, was sie wütend machen könnte. Ich bin doch nicht verrückt und leg mich hier vor allen Kollegen mit ihr an. Ich hab mich nur bei ihr entschuldigt. Das war alles.«
Mansfield wusste, dass da noch mehr gewesen sein musste, aber das würde er nachher mit Karen klären. Vielleicht war es wirklich besser, wenn Alicia jetzt mit ihr redete.
Davidson sah, wie sich die Hand seines Partners entkrampfte, mit der er gegen den Türrahmen lehnte, und atmete erleichtert auf. »Komm, bleib. Wir wollen noch ein bisschen zusammen mit Winslow und den anderen feiern, okay?«
Mansfield nickte und stieß sich von dem Türrahmen ab. Sofort kamen Allan und Tess, die den kurzen Streit zwischen Karen und Tom beobachtet hatten, mit zwei Flaschen Bier zu ihnen und lenkten sie mit einer Anekdote über ihren Chef ab, die alle Umstehenden zum Lachen brachte.
Alicia war hingegen im Augenblick nicht zum Lachen zumute. Sie hatte schnell ihre Jacke von der Garderobe genommen und sie über die Schultern gelegt, während sie Karen nacheilte. Vor der Tür sah sie, wie Karen schon zwei Häuser weiter war und ihr Handy ans Ohr hielt. Wahrscheinlich rief sie nach einem Taxi, das sie wieder in die Upper West Side bringen sollte.
»Karen, warte auf mich!«
Sie sah, wie Karen das Telefonat beendete und das Handy wieder in den Mantel steckte.
»Ich will nicht warten. Du bist doch mit ihm einer Meinung!«
»Ach ja? Und warum habe ich dir dann den Brief geschrieben? Hat Michael ihn dir nicht gegeben? Da stand doch alles drin, wie es war.«
Auf einmal hatte Karen ein schlechtes Gewissen und blieb
Weitere Kostenlose Bücher