0790 - Kristall aus der Vergangenheit
Vergangenheit, 1813
Unwissend, was er damit auslöste, öffnete er den Deckel der alten modrigen Holzkiste. Die rostigen Scharniere knarrten in den Gelenken. Jahrzehnte alter Staub wallte auf, der ihn zum Husten reizte. François hielt die Petroleumlampe so, dass das flackernde Licht ins Innere der mysteriösen Kiste fiel.
Darin befanden sich allerlei vergilbte und verschlissene Stofffetzen und Lumpen. Er nahm mit der freien Hand eine graue, mit Flicken versehene Hose heraus und warf sie enttäuscht zur Seite.
Die Kiste war seine letzte Hoffnung darauf, dass die Erbschaft, die er kürzlich gemacht hatte, sich doch noch als wertvoll herausstellte. Wenn sich auch darin nichts Brauchbares finden ließ, musste er die Erwartungen, die er in den Nachlass gesetzt hatte, begraben. Das war höchst ärgerlich, denn er hatte sehr große Erwartungen gehegt.
Unter einer zerknitterten Lederweste kam ein kleines ledergebundenes Buch mit zwei goldenen Verschlussschnallen zum Vorschein. »Was haben wir denn da?«, murmelte François. Mit Mühe löste er die Verriegelungen der Schnallen, riss sich dabei einen Fingernagel ein. Der Lederrücken des Buches gab ein protestierendes Geräusch von sich, als François es öffnete und auf schwungvoll geschriebene Buchstaben blickte. Er erkannte sofort die weit ausholenden Initialen.
Kein Zweifel, es war die Handschrift seines gerade verstorbenen Großvaters. Bei dem Buch musste es sich um seine Tagebuchaufzeichnungen handeln. Die erste Eintragung stammte aus dem Mai 1753.
François überlegte kurz. Sein Großvater war damals ein junger Mann gewesen, gut zwanzig Jahre alt. Fasziniert begann er die ersten Worte zu lesen…
6. Mai 1753
Etwas ist geschehen, das mich dazu veranlasst, meine Gedanken zu Papier zu bringen. Mein Onkel ist verzweifelt, denn ohne ersichtlichen Grund ist seine Tochter vor einigen Tagen schwachsinnig geworden. Sie war mit ihm im Wald unterwegs, als sie plötzlich zu schreien begann und danach völlig verwirrt war.
Er brachte sie schnellstmöglich nach Hause zu ihrer Mutter. Doch jede Hoffnung, dass es sich um einen vorübergehenden Verwirrungszustand handeln könnte, hat sich bitter zerschlagen. Trotz aller liebevollen Pflege durch ihre Mutter kam Celine nicht wieder zu sich.
Ich bedauere sie, und ebenso meinen armen Onkel. Er steht vor einem Rätsel. Immer wieder hat er seinem weinenden Weib betont, er wisse nicht, wie es dazu gekommen sei.
Viele im Dorf haben schon über ihn und seine Familie hinter vorgehaltener Hand zu reden begonnen. »Mit der kleinen Celine hat es begonnen«, flüstern sie. »Sie muss es sein, von der das Nervenfieber ausgeht.«
Hass macht sich breit, denn der Wahnsinn streckt seine gierigen Klauen wie eine Seuche unaufhaltsam nach dem Dorf aus.
François’ schlechte Stimmung war wie weggewischt. Er klappte das alte Tagebuch zu und steckte es in seine Jackentasche. Wenn sein Großvater schon kein Geld hinterlassen hatte und bei seinen ganzen Habseligkeiten auf dem Dachboden nichts Nützliches zu finden war, so hatte sein Nachlass doch wenigstens eine interessante Geschichte zu bieten.
Besser als nichts.
Dass diese Geschichte für immer sein Leben verändern sollte, konnte François zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
***
François hatte sich in eine ruhige Ecke der Wohnstube zurückgezogen, um die Zeilen seines Großvaters ungestört weiter zu verfolgen. Durch das kleine Fenster fiel gerade noch genug Licht, damit er ohne Anstrengung lesen konnte. Er trank einen Schluck Wein und vertiefte sich in die alten Aufzeichnungen. Leicht modriger Geruch ging von dem alten Buch aus.
8. Mai 1753
Endlich komme ich wieder dazu, einiges niederzuschreiben. Schon wieder wurde jemand vom Schwachsinn befallen. Es ist das elfte Opfer seit dem Vorfall mit Celine. Elf zumindest, von denen man weiß. Es sind keine weiteren Fälle bekannt geworden, doch das heißt nicht, dass es sie nicht geben kann.
Panik beginnt sich im Dorf auszubreiten. Jeder hat Angst, dass er der Nächste sein könnte. Manche haben Angst wie vor einem Ausbruch der Pest. Sie kommen nicht mehr aus ihren Häusern heraus, haben alle Fenster verriegelt.
Auf der Straße musste ich mit anhören, wie mein Onkel wieder angeklagt wurde, an allem die Schuld zu tragen. »Schon immer wusste ich, dass er mit dem Teufel im Bund steht«, hat der dicke Dorfschreiber gesagt. Dieser dumme Kerl! Letzte Woche hat er noch mit meinem Onkel in der Dorfschänke gesessen und mit ihm
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