Der Ziegenchor
Heiligtum sogar ein weithin bekanntes Wahrzeichen. Doch vor ein paar Jahren flog bei einem Sturm das Dach weg, und von da an nahmen die Leute die Steine, um damit Grundstücksmauern und Scheunen zu bauen. Alles, was heutzutage noch vom Heiligtum übrig ist, sind der heilige Bereich und der Altar.
4. KAPITEL
Wie ich sehr gut weiß, macht es manchen Leuten keinen Spaß, ein Epos oder eine Erzählung zu lesen, solange man ihnen nicht das Aussehen des Helden beschreibt. Meiner Ansicht nach liegt das an einer gewissen Schwäche der Vorstellungskraft, die ich keineswegs noch fördern möchte. Das Problem dieser Menschen kann ich allerdings gut nachempfinden, da es mir als Junge genauso ging, als ich noch die Schule von Stratokies besuchte, eine wirklich erbärmliche Anstalt.
Das erklärte Ziel dieses Instituts war es, die Söhne aus gutem Hause im Vortrag der Werke Homers zu unterrichten. Zu meiner Zeit herrschte nämlich die allgemeine Überzeugung, daß die einzige Fertigkeit, die sich ein junger Mann vor dem Start ins Leben anzueignen hatte, im auswendigen Vortragen der Ilias und der Odyssee bestehe, wie alle diese schwermütig dreinblickenden alten Männer, die sich noch heute auf diese Weise ihren Lebensunterhalt am Rande von Basaren verdienen. Aufgrund meines hochgesteckten Ziels, Literat und Ästhet zu werden, konnte ich mich mit diesem Gedanken überhaupt nicht anfreunden. Zunächst einmal gefällt mir Homer nicht. (Ich weiß, das ist fast dasselbe, als würde ich sagen: ›Tut mir leid, aber ich habe nun mal was gegen das Sonnenlichte‹). Vor allem aber hatte ich mit Dingen, die ich nicht ausstehen konnte, viel weniger Geduld als heutzutage. Leider waren die Lehrer an Stratokies’ Schule allesamt größer und kräftiger als ich (wie ich befürchte, war das wahrscheinlich die einzige Qualifikation, nach der Stratokies beim Kauf von Lehrpersonal auf dem Sklavenmarkt suchte), so daß ich mein Gehirn gezwungenermaßen mit irgendeinem Trick überlisten mußte, um die endlosen Versabschnitte aus einherstolzierenden Hexametern in mich aufzunehmen, die ich jeden Tag auswendig zu lernen hatte. Schließlich kam ich auf die Idee, mir vorzustellen, jeder einzelne Held aus den beiden Epen Homers sei jemand aus meinem Bekanntenkreis. Auf diese Weise brauchte ich mir immer nur einzubilden, daß eine mir vertraute Person diese ganzen albernen Dinge anstellte, die man im Heldenzeitalter so tat und von sich gab, und dadurch fiel mir das Auswendiglernen wenigstens etwas leichter.
Aus Achilles, den ich schon immer von Herzen verachtet habe, wurde zum Beispiel der Würstchenverkäufer Menesikrates, ein umwerfend gutaussehender Mann mit leicht erregbarem Gemüt, der damals vor dem Geschworenengericht seine knorpeldurchsetzten Würstchen verkaufte. Agamemnon – großkotzig, grausam, feige und dumm – verwandelte sich nahtlos zu Stratokies selbst, während mich Agamemnons einfältiger Bruder Menelaos immer an den jungen Sklaven Lysikles erinnerte, einen meiner Lehrer. Der Schulleiter Typhon wiederum war wie geschaffen für die Rolle des schleimigen und mit allen Wassern gewaschenen Odysseus – dabei handelt es sich natürlich um den Odysseus aus der Mas, denn der Odysseus aus der Odyssee ist ein ganz anderer Mensch, der mir zugegebenermaßen seit eh und je ziemlich gut gefallen hat. Deshalb bekam dieser zweite Odysseus immer größere Ähnlichkeit mit meinem Vater, und ich wurde auf diese Weise notgedrungen zum Sohn des Königs von Ithaka, dem schönen, von seinen intellektuellen Fähigkeiten her allerdings leicht minderbemittelten Prinzen Telemachos, der auf die Heimkehr seines ruhmreichen Vaters aus dem Trojanischen Krieg wartet. Was Hektor angeht – nun, soweit ich mich erinnern kann, hatten damals alle kleinen Jungen in Attika dasselbe Bild von Hektor: ein Mann in mittleren Jahren, aber sehr viel jünger aussehend, der sein von Sorgen geprägtes Gesicht zu einem ermutigenden Lächeln zwingt und dessen Kopf höchst eigenartig geformt war, was Homer allerdings zu erwähnen vergaß. Mit anderen Worten: Hektor wurde zu Perikles. Dieser Hektor-Perikles hat sogar meine Freundschaft mit Kratinos und die Erinnerung an meine Begegnung mit dem athenischen Staatsmann selbst bis zum heutigen Tage überdauert.
Alle diese überflüssigen Rückblicke sind lediglich ein Vorwand, um die unangenehme Aufgabe, mein eigenes Äußeres zu beschreiben, noch ein wenig hinauszuzögern. Bislang habe ich dieses Versäumnis in meiner Erzählung
Weitere Kostenlose Bücher