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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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kleinen Zeus in seiner ganzen Länge von fast zwei Metern zu stoßen, der mich mit durchdringendem Blick wie ein Hund zur Fütterungszeit beobachtete. Ständig ermahnte er mich zur Vorsicht, damit ich nicht ausrutschte, wenn die Straße schlammig war, und warnte mich vor schnell herannahenden Wagen. Wenn er das Wasser, das ich gerade trinken wollte, für in irgendeiner Weise verdorben hielt, riß er mir sogar jedesmal den Becher aus der Hand, goß das Wasser aus und rannte los, um ihn aus dem nächsten vertrauenswürdigen Brunnen wieder zu füllen. Zuerst führte ich diese Fürsorge auf natürliche Dankbarkeit zurück und war darüber zutiefst gerührt. Erst später wurde mir klar, daß er fest entschlossen war, mich vor jeglichem Schaden zu bewahren, bis seine zehn Morgen Land sicher bepflanzt waren und die ersten Erträge lieferten. Beinahe wäre er verhaftet und vor Gericht gestellt worden, weil er gleich zweimal athenische Bürger verprügelt hatte. Sie hatten es gewagt, sich mir zu sehr zu nähern, und das, obwohl er sie in Verdacht hatte, die Pest zu haben. Als ich einmal Phaidra besuchte, brachte er sogar den Hund ihres Vaters um, und das nur, weil er sich einbildete, das Tier wolle mich beißen.
    Abgesehen von dieser Besessenheit und seiner völligen Humorlosigkeit besaß der kleine Zeus aber auch viele hervorragende Eigenschaften. Er kannte nicht die geringste Angst – bei seiner enormen Größe durchaus verständlich – und war ein unermüdlicher Arbeiter, nachdem er erst einmal begriffen hatte, daß er kein wirklicher Lohnarbeiter, sondern eher eine Art enteigneter Prinz am Hof eines königlichen Wohltäters war, der ihm eines Tages wieder zu seinen Besitztümern verhelfen würde. Wie es sich für einen Mann in dieser homerischen Lage gehört, bemühte sich der kleine Zeus, sich wie ein Held zu verhalten, also ›immer der Beste zu sein‹, wie die Dichter sagen, und sich vor allen anderen hervorzutun, gleichgültig, worin die momentane Aufgabe auch immer bestand. Er stand gewöhnlich noch hinter dem Pflug, wenn wir anderen schon lange aufgegeben hatten und unter einem nahegelegenen Feigenbaum erschöpft Pause machten, und wenn er mit einer Steinschleuder die Weinreben bewachte, wagte es nicht ein einziger Vogel, im Umkreis von mehreren Kilometern auch nur seine Schnabelspitze zu zeigen. Er schwang die Breithacke, als wäre er Aias selbst und als wären die Erdklumpen nichts anderes als trojanische Krieger, so daß auf uns andere ein wahrer Hagel aus fliegenden Steinen und Wurzelstücken niederprasselte. Sobald die Feld- oder Weinernte eingebracht wurde, trug er den ganzen Weg von den Scheunen bis zur Stadt fast sein gesamtes Eigengewicht an Erntegut und beobachtete mich dabei Schritt für Schritt wie ein Falke, um sicherzustellen, daß ich auf den Bergpfaden nicht ausrutschte oder hinfiel.
    Sein ungestümer Eifer, sich auszuzeichnen und alles richtig zu machen, war selbst in der Stadt nicht zu bremsen. Wann immer er sich in Gesellschaft befand oder Wein getrunken wurde, sang er die Hymne auf Harmodios, bis die Wände wackelten; zwar hatte er eine schöne Stimme, aber leider war sie viel zu laut. Wie es sich für einen Edelmann gehört, kannte er sämtliche adligen Dichter auswendig – Theognis und Archilochos sowie jedes Wort, das Pindar jemals geschrieben hat –, was mir eine große Hilfe war, wenn ich ein Zitat brauchte, um es in einem Stück zu parodieren. Seine größte künstlerische Leistung jedoch beruhte auf seiner Fähigkeit, eine Einmannvorstellung von Aischylos’ Persern zu geben. Sein Urgroßvater hatte in Marathon mit dem großen Tragiker im gleichen Glied der Phalanx gekämpft, so daß die Komödie praktisch Familienbesitz war. Zuerst verkörperte der kleine Zeus den Chor persischer Adliger – unterbrochen von gelegentlichen Einwürfen wie, »Dies ist die authentische Trauerpose des persischen Adels, die hat mein Urgroßvater in der Schlacht gesehen« –, dann spielte er die Rollen aller Schauspieler, wobei er sich immer wieder umdrehte, um in den Dialogen einen Wechsel des Sprechers anzudeuten. Bei den weiblichen Gestalten hob er die Stimme zu einem Piepsen an, bis sich seine Zuschauer ihre Chitons in den Mund stopfen mußten, um nicht laut loszulachen. Einmal war mein lieber Kallikrates zu langsam, und ihm rutschte ein kurzes Kichern heraus, woraufhin der kleine Zeus mitten im Vers abbrach und sich erbost umsah, um festzustellen, wer einen Witz gerissen hatte.
    Als ich mich in der

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