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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Kerameikos; doch das einzige Familienmitglied, das starb, war Diogenes selbst.
    Das hatte zur Folge, daß seine fast siebzig Morgen Weinland, die genügend Ertrag lieferten, um ihm die Zugehörigkeit zur Steuerklasse der Reiterei zu sichern, in sieben Grundstücke von knapp zehn Morgen aufgeteilt wurden, eins für jeden Sohn. Das wäre schon schlimm genug gewesen, aber da sich die Spartaner gerade in jenem Jahr entschlossen hatten, Acharnai zu verwüsten, entfielen auf die sieben Erben des Nachkommens von Zeus letztendlich nichts als herausgerissene Weinstöcke und zerstörte Spaliere.
    Die Söhne finanzierten Diogenes’ Begräbnis, indem sie seine Soldatenausrüstung verkauften, meldeten sich zum Dienst als Ruderer und machten sich daran, sich den Lebensunterhalt so gut wie möglich zu verdienen. Sechs der Brüder blieben in der Stadt und wurden bald nebenberuflich zu Richtern, waren also gesetzestreue Mitglieder der Gruppe, die wir die ›Klasse der drei Obolen‹ zu nennen pflegten. Der kleine Zeus hingegen (der nebenbei der größte und schwerste Mann war, der mir je begegnet ist) hielt solch ein Leben für den Nachfahren einer Familie, die schon vor den Zeiten von Theseus’ Geburt in Athen gelebt hatte, für zu erniedrigend. Deshalb verdingte er sich als Lohnarbeiter und hoffte, genügend Geld zu sparen, um sich nach dem Krieg Weinrebenableger kaufen und seine zehn Morgen neu bepflanzen zu können.
    Diese tragische Geschichte erzählte er mir während der Olivenernte – ich saß oben im Baum und schüttelte die Früchte mit einem Stock herab, während der kleine Zeus darunter stand und sie in einem Korb auffing –, und ich schäme mich nicht einzugestehen, daß mir die Tränen kamen (natürlich vor Lachen). Da sein Land aber eine kurze gemeinsame Grenze mit einem Grundstück hatte, das Philodemos gehörte, dem Bruder meiner Mutter, war er de facto ein Nachbar, und weil ich jung und ganz erfüllt von meinem neuen Status als Reiter war, beschloß ich, ihm unter die Arme zu greifen.
    Während ich vom Ölbaum wie Prometheus der Erlöser vom Himmel hinabstieg, sagte ich: »Deine Schwierigkeiten haben ein Ende, kleiner Zeus. Ich werde dein Land als Geschenk für meinen Onkel kaufen, und mit dem Geld kannst du dich als Kaufmann oder Handwerker niederlassen. Das ist ein besseres Leben als das eines Tagelöhners.«
    Aber der kleine Zeus schüttelte energisch den Kopf. »Das würde mir nicht mal im Traum einfallen«, antwortete er. »Das ist unser Land. Dort haben wir schon gelebt, bevor die Dorier kamen, und meine Vorfahren sind dort begraben. Willst du, daß mich die Erinnyen jagen?«
    Über diese Antwort war ich sehr erstaunt. »Wie du meinst«, entgegnete ich. »Dann werde ich mit dir eine Beteiligungsvereinbarung treffen. Ich bepflanze dir dein Land und erhalte dafür von dir so lange ein Sechstel deines Ertrags, bis du die Schuld bezahlt hast.«
    Der kleine Zeus schüttelte erneut den Kopf und spuckte in seinen Chiton, um das Böse abzuwenden. »Mein Urururgroßonkel war mit Solons Söhnen verschwägert, die die Hypothekensteine aus dem Boden gerissen haben«, erwiderte er. »Glaubst du, er bliebe ruhig im Grab liegen, wenn einer seiner Nachkommen nur noch Teilhaber seines eigenen Grund und Bodens ist?« Er hob sich den Olivenkorb mit der ganzen Schicksalsergebenheit Niobes auf die Schulter und trug ihn zu der Stelle hinüber, wo der Esel angebunden war.
    »Paß auf, dann tue ich folgendes«, schlug ich vor, wobei ich mich bemühte, keine Miene zu verziehen. »Ich bepflanze dir dein Land als Geschenk von Nachbar zu Nachbar, und zwar in Angedenken an deinen unsterblichen Vorfahren Solon.«
    »Der war eigentlich kein richtiger Vorfahre von mir, sondern nur ein angeheirateter Verwandter«, begann der kleine Zeus und ließ dann plötzlich den Korb fallen. »Du tust was?«
    »Und wenn schon«, fuhr ich munter fort. »Wenn deine Weinstöcke pro Reihe fünfzehn Krüge Trauben trügen, wärst du doch sicherlich auch gern bereit, dein Glück mit einem Nachbarn zu teilen, nicht wahr? Ich bin sicher, der große Solon hieße das gut, gleichgültig, welche Wohnung er auf der Insel der Seligen mit Harmodios und Kleisthenes dem Befreier teilt.«
    »Zufällig bin ich ein indirekter Nachfahre des ruhmvollen Kleisthenes«, entgegnete der kleine Zeus und erzählte mir alles darüber, während er die ausgeschütteten Oliven wieder in den Korb schaufelte.
    Von diesem Tag an hatte ich Schwierigkeiten, mich umzudrehen, ohne auf den

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