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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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verdursten müßte«, erwiderte Phaidra, und sie hauchte mir ihren Atem voll ins Gesicht, als sie meinen Kuß erwiderte. »Kein Wunder, daß die Leute nicht mehr in unser Haus kommen. Ich habe gehört, Amyntas sei eine Woche lang krank gewesen, nachdem er mich das letztemal besucht hat.«
    »Du triffst dich also immer noch mit Amyntas, obwohl er dir den phönizischen Spiegel mit dem Elfenbeinstiel geklaut hat?« Betrübt schüttelte ich den Kopf. »Und das, obwohl es dich soviel gekostet hat, ihn von seinem Freund zurückzubekommen. Du hast so eine schlechte Menschenkenntnis, Phaidra. Ich weiß wirklich nicht, was aus dir werden soll.«
    »Eigentlich habe ich Amyntas schon seit Wochen nicht mehr gesehen, und da wir schon dabei sind, auch niemanden sonst«, wehrte sie sich etwas kleinlaut und fügte gähnend hinzu: »Können wir jetzt nach Hause gehen? Ich habe während deines Stücks richtig geschlafen, aber ich bin immer noch ziemlich müde.«
    »Das kommt davon, wenn man schon nachmittags trinkt«, erwiderte ich. »Aber wenn du artig bist, zeige ich dir, wo ich den richtig guten Wein aufbewahre.«
    »Unter den Feigen in der Vorratskammer, und das meiste davon ist schon zu Essig geworden«, klärte sie mich schläfrig auf. »An einem der nächsten Tage werde ich meinen Bruder holen, damit er dir zeigt, wie man einen Krug richtig versiegelt.«
     
    Gerade habe ich das, was ich bislang geschrieben habe, noch einmal durchgelesen und mußte zu meinem Entsetzen feststellen, daß ich von meiner eigenen Geschichte so mitgerissen worden bin, daß ich fast überhaupt nichts über das gesagt habe, was im Krieg geschehen ist. Wäre ich nicht von Natur aus ein leichtfertiger, sondern ein gewissenhafter Mensch, müßte ich jetzt die Rolle zerreißen und ganz von vorn anfangen. Aber wenn ich dieses eine Mal ehrlich sein soll, muß ich gestehen, daß ich mich an den betreffenden Kriegsabschnitt nicht besser erinnere als jeder andere Athener; als Volk haben wir ein auffallend schlechtes Gedächtnis für Dinge, die zu unseren Lebzeiten geschehen sind. Bei den Taten unserer Väter und Großväter sind wir viel besser; aber da wir unsere Kenntnisse über jene Epochen von Menschen beziehen, die zu ihrer Zeit ebenso nachlässig und vergeßlich gewesen sind wie wir heute, leuchtet es ein, daß, falls irgendein Abschnitt unserer überlieferten Geschichte historisch zutreffend ist, dies nur reiner Zufall sein kann oder es daran liegt, daß wir Menschen aus anderen Städten und Gegenden gefragt haben, woran sie sich erinnern können.
    Aber Sie haben die Jahre bestimmt an den Fingern abgezählt und sitzen wahrscheinlich wie jemand in der Volksversammlung da, der auf gute Neuigkeiten über die Fischpreise wartet, und hoffen, daß ich endlich etwas über Mytilene und Pylos erzähle. Also schreibe ich jetzt lieber etwas darüber, sonst werden Sie noch an mir und meiner Geschichte verzweifeln und mein Buch an einen dieser Männer verkaufen, die die obere Papyrosschicht abkratzen, um es wiederzuverwenden. Also schön.
    Ich bin übrigens auf der Volksversammlung gewesen, bei der es um Mytilene ging; das heißt, am ersten Tag und nicht am zweiten, als man seine Meinung geändert hat. Dabei hatte ich überhaupt nicht vorgehabt hinzugehen; eigentlich stand ich auf dem Marktplatz herum und feilschte mit einem Mann um einen Ballen Schaffelle, die ich in Pallene als Decken verwenden wollte. Ich war so mit dem Versuch beschäftigt, ein paar Obolen zu sparen, daß ich nicht die Agoranomen, die mit polizeilichen Aufgaben betrauten Marktplatzwächter, mit dem in rote Farbe getauchten Seil über den Markt kommen sah – auf diese Weise trieb man zu meiner Zeit die Leute, die anscheinend nichts zu tun hatten, in die Volksversammlung. Jedenfalls duckte sich der Schaffellverkäufer plötzlich hinter seine Ballen, und als ich mich nach hinten umblickte, war da schon das rote Seil, das direkt auf mich zukam. Ich schaffte es gerade noch, die Pnyx zu erreichen, bevor mich die Agoranomen einholen konnten, und entging so den ›Rotbein! Rotbein!‹-Sprechchören, mit denen die letzten Ankömmlinge stets begrüßt wurden.
    Dort hörte ich auch Kleon zum erstenmal in der Öffentlichkeit sprechen, und Sie können sich bestimmt vorstellen, welchen Eindruck das auf mich machte. Wenn er sich erst einmal in Rage geredet hatte, war er eine wirklich ehrfurchtgebietende Gestalt, und obwohl ich es als Komödiendichter für meine Pflicht hielt, ihn zu hassen, fiel mir das

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