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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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zu meinem Geldgeber ernannt, woraufhin ich die Kosten für die Inszenierung ausrechnete und ihm die Aufstellung brachte. Er war praktisch ein Nachbar und wohnte in einem der besten Häuser in ganz Athen. Sein Vermögen stammte größtenteils aus den Silbergruben, weshalb manche Leute meinten, auf ihn herabsehen zu müssen, aber Nikias hatte nichts vom Silberkönig an sich. Er roch nicht nach Geld wie so viele Menschen, die ein Vermögen gemacht haben; eigentlich war sowieso nichts Anrüchiges an ihm. Von allen Menschen, die mir im Leben begegnet sind, fallen mir nur wenige ein, die ich mehr bewundert und gleichzeitig weniger gemocht habe als ihn; denn Nikias war ohne Frage der langweiligste Mann in Athen.
    Er gehörte zu jenen Menschen, die alles durchdenken, langsam, vernünftig, gründlich, und nichts unternehmen, bis sie sich überzeugt haben, daß es wohlüberlegt (und moralisch richtig) ist, diese bestimmte Angelegenheit auf diese bestimmte Weise zu erledigen. Man sah ihn in Gedanken eine Art Kontrolliste durchgehen, und er war der reinste Alptraum, was langes, nachdenkliches Schweigen anging. Auch wenn er ständig von Nierenleiden geplagt wurde, ließ er sich durch seine Krankheit doch nie von seinen Pflichten abhalten (sein ganzes Leben bestand aus Pflichten); und obwohl er offensichtlich an sehr starken Schmerzen litt, erwähnte er nie etwas davon, es sei denn, er empfand es als seine Pflicht zu gestehen, daß er aufgrund des Leidens nicht in der Lage sein werde, dieses oder jenes ordnungsgemäß bewerkstelligen zu können. Die Inszenierung von Komödien (deren Inhalt er nicht einmal im entferntesten verstand und die er grundsätzlich geschmacklos fand) hielt er sowohl für eine religiöse als auch für eine Bürgerpflicht. Da er zudem fest überzeugt davon war, den Großteil seines Privatvermögens eher als Treuhänder der Einwohner Athens zu verwalten – ich bin mir sogar sicher, daß er selbst am Bezahlen der Steuern Spaß hatte, sofern ihm jemals etwas Spaß machte –, hatte er beschlossen, daß keine Kosten gescheut werden dürften und mein Chor in höchstmöglicher Qualität ausgestattet werden und proben sollte. Doch dann kamen seine Umsicht und Vernünftigkeit ins Spiel; Geiz oder falsch verstandene Sparsamkeit müssen nicht sein, aber Verschwendung auch nicht. Verschwendung ist eine Beleidigung der Götter, die für uns sorgen, und daher moralisch verwerflich.
    Die Folge war, daß meine Trieren original tyrische Purpurumhänge bekamen; aber als die Umhänge fertig waren, ließ Nikias einen Sklaven kommen, der sämtliche Stoffreste aufsammelte, um sie auf dem Markt zu verkaufen. Der Chor wurde immer wieder bei voller Bezahlung eingeübt; doch lautete Nikias’ Anweisung, daß jeder Zuspätkommende einen Obolos Strafe zu bezahlen habe und die angesammelten Geldstrafen am Vorabend des Festspiels für eine Opfergabe an Dionysos verwandt werden sollten. Was die Schauspieler anbetraf, besagten die Vorschriften, daß sie Stundenlohn erhalten sollten, und deshalb wurde jede Probe mit einer Wasseruhr gemessen, die gestoppt wurde, sobald die Probe beendet war. Danach wurde das in der Uhr verbliebene Wasser sorgfältig gemessen, um genau um zu berechnen, was jeder einzelne Mitwirkende zu bekommen hatte, und zwar bis zum letzten Obolos.
    Das war fast unerträglich und rief in der Truppe mehr Mißstimmung hervor, als es der sonst übliche Geiz und erst später ausgezahlte Lohn getan hätten. Darüber hinaus war Nikias der Ansicht, seine Verantwortung für die Inszenierung ende nicht mit der regelmäßigen Auszahlung von Silbermünzen. Obwohl er nur ungern in der Öffentlichkeit auftrat, hielt er es offenbar für seine Pflicht, immer wieder Reden zur Ermunterung zu halten (natürlich bei laufender Wasseruhr). Diese Reden dauerten nie mehr als ein paar Minuten, wobei er eine gute, fast geschliffene Ausdrucksweise an den Tag legte; trotzdem habe ich mich mein ganzes Leben lang nie so gelangweilt.
    Bis zum heutigen Tag kann ich ihn mir bildlich vorstellen, wie er am Altar in der Mitte der Bühne stand, auf einen Stock gestützt, da er sich immer furchtbar unwohl fühlte, wenn er eine Ansprache halten mußte. Er pflegte sich zu räuspern, auf Ruhe zu warten und uns dann zu erzählen, daß wir stets bestrebt sein sollten, für die Stadt unser Bestes zu geben, da wir und die Stadt Athen völlig übereinstimmende Interessen hätten. Wenn wir Athen unterstützten, trichterte er uns (immer wieder) ein, würden wir sowohl

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