Der Ziegenchor
altruistisch als auch egoistisch handeln – was natürlich moralisch vollkommen richtig sei, denn ein Mensch müsse das tun, was gut ist, aber auch stets das, was angebracht ist, wobei er zwischen diesen beiden Vorgehensweisen eine göttergleiche Harmonie herstellen müsse. Und er schloß immer mit der Aussage, es seien die Menschen, die eine Stadt ausmachten, nicht Mauern und Häuser und Tempel, und ohne gute Männer brächten sämtliche Trieren und alles Silber der Welt nichts als Kummer und Leid. Dann verließ er jedesmal schweigend das Rednerpult, ging schmerzerfüllt nach Hause und ließ uns alle völlig niedergeschlagen zurück – und in dieser gedrückten Stimmung sollten wir nun jedesmal weiter an der Komödie proben.
Im starken Gegensatz zu Nikias’ Moralpredigten standen die Ansprachen von Philonides, die bei den Mitwirkenden noch gefürchteter waren. Ich habe Leiter sizilianischer Arbeiterkolonnen und die Aufseher in den Steinbrüchen und Silbergruben gehört, aber selbst die sprechen zu den Sklaven nicht so wie Philonides zu den freien Bürgern Athens, die in meinem Chor mitwirkten. Zwar hatten sämtliche Schauspieler schon zuvor wenigstens einmal mit ihm zusammengearbeitet, doch konnte das niemanden daran hindern, manchmal in Tränen auszubrechen oder sogar aus dem Theater zu laufen, und als ich Philonides aus Angst vor einer Gefährdung der ganzen Inszenierung darum bat, endlich damit aufzuhören, schien er mich nicht zu hören. Während dieser Proben erfüllte ihn anscheinend alles, was mit dem Stück zu tun hatte – nicht zuletzt der Text selbst – mit unerträglichem körperlichen Schmerz. Wenn ich mich aber nach einem besonders qualvollen Tag auf den Weg machte, ihn in seinem Haus zu besuchen, pflegte er immer nur zu lächeln, mir Wein einzuschenken und mir zu versichern, es handle sich um das beste Theaterstück, das jemals geschrieben worden sei, und es käme einem Verbrechen gegen Dionysos gleich, nur ein einziges Wort daran zu ändern. Zum Abschluß fragte er mich zumeist, wie sich meine Linsen in Phrearrhos machten, jetzt, da ich dazu übergegangen sei, Seegras als Dünger einzusetzen.
Während unserer Proben wurden die Türen des Theaters fest verriegelt und Sklaven mit Holzknüppeln davor postiert, um sicherzustellen, daß niemand hereinkommen konnte. Aber einigen Leuten gelang es, sich durch die Kontrollen zu mogeln, indem sie vorgaben, sie kämen als Boten von Nikias, um die Öllampen zu zählen, oder seien sogar geladene Gäste des Autors der Komödie. Zudem war allgemein bekannt, daß andere Bühnendichter ihre Spione im Chor hatten, und man darüber hinaus nichts dagegen unternehmen konnte, daß Schauspieler ganze Reden verkauften. Ich bin fest davon überzeugt, sie taten das mehr aus Haß gegen Philonides als um des Geldes willen; aber was auch immer der Grund war, schon bald merkte ich, daß meine Konkurrenten und insbesondere Aristophanes ein außergewöhnliches Interesse an der Inszenierung an den Tag legten.
Alle Stückeschreiber geben ihr Bestes, um die Arbeit ihrer Konkurrenten zu sabotieren. Wenn man will, könnte man dieses Vorgehen als Zeichen des Respekts bezeichnen, und ich bin diesbezüglich auch nicht besser. Selbst der große Aischylos versuchte immer, die Schauspieler eines Konkurrenten am Tag der Aufführung betrunken zu machen. Zudem kennt ein jeder die Geschichte, wie Euripides den Schauspieler Gnatho entführte, als jener hinter den Kulissen in Agathons Perseus auf sein Stichwort wartete, und wie er dennoch entkam, indem er sich durch ein Loch in den Bodenbrettern von Euripides’ Haus schlängelte, in seinen Tragödienstiefeln durch die Straßen zurücklief und noch rechtzeitig auf sein Stichwort hin auftrat, als wäre nichts geschehen. Aber irgendwie hatte ich im Verlauf der Proben für den Heerführer begriffen, daß mir dergleichen nie passieren würde. Natürlich wurde Philonides mit den meisten Versuchen, das Stück zu sprengen, mit Leichtigkeit fertig und schlug dann mit der ganzen für ihn charakteristischen Grausamkeit zurück. Philonides war es, der den Überfall auf den Dichter Phrynichos befahl, was diesem ein gebrochenes Schlüsselbein einbrachte, und einen unserer Schauspieler hätte er beinahe eigenhändig umgebracht, als dieser versuchte, Kostüme anzuzünden. Aber davon erzählte er mir damals selbstverständlich nichts, und was ich von anderen Leuten über ihn hörte, tat ich als dummes Geschwätz ab.
Der Verdacht, daß irgend etwas nicht
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