Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Journalisten wollten von ihm hören, wie es ausgehen würde, wollten schon jetzt das Ende der Geschichte verraten bekommen und die Moral noch dazu. Er sollte jetzt eine Zahl nennen, nicht die, die er sich wünsche oder vermute, sondern die, die dann wirklich käme. Steinbrück sollte jetzt schon wissen, was keiner wissen konnte, weil die Kreuze noch nicht gemacht und viele Wähler noch nicht entschieden waren. Aber hier, im Bürgerspital zu Würzburg, wo es Schäufele gab und niemand sich mehr rühren konnte, hier sollte von ihm sofort die Zukunft verkündet werden. Nicht weil es so existentiell wichtig gewesen wäre, auch nicht, um es aufzuschreiben und zu veröffentlichen, sondern einfach, damit man es jetzt schon wusste und dann, am Sonntag, nach Dingen fragen konnte, die in der unbestimmten Zukunft liegen. Um die Unberechenbarkeit zu eliminieren, alles sollte eingepreist sein. Und sie wollten hören, ob er weinen werde, wenn es schlecht ausginge, oder jubeln, wenn ihm etwas gelänge.
Es wurde danach gefragt ob Sigmar Gabriel noch Vorsitzender bleiben könne, wenn es schiefginge, und nach der Rolle von Olaf Scholz und Hannelore Kraft. In diesem Zusammenhang hatte die »Welt« von Plänen berichtet, wie sich die Partei nach einer Niederlage reorganisieren könnte. Nun legte sich Steinbrück also mit dem anwesenden Journalisten dieses Blatts an und kritisierte, dass der Artikel, obwohl man ihn zweimal, in der Sonntags- und dann noch mal in der Montagsausgabe gebracht habe, keine harten Fakten enthalte. Der Journalist widersprach erwartungsgemäß und sagte, er habe sehr wohl Belege und mit maßgeblichen SPD -Oberen gesprochen. Steinbrück widersprach abermals und erklärte, er könne weder mit Scholz, Kraft, Gabriel, Steinmeier oder Nahles gesprochen haben. Der Journalist, der seine Quellen schützen darf, ja sogar muss, brauchte hier nur überlegen zu schweigen, schon nahm jeder an, die Genossen würden ihre Konflikte mal wieder über Durchstechereien an Journalisten regeln wollen. Und vor einem Saal voller Journalisten gilt die professionelle Solidarität zuerst einem Kollegen, zumal wenn der sich auf den Quellenschutz beruft. Egal, was man von dem Stück im einzelnen halten mochte. Fatalerweise war genau in diesem Augenblick der Pressesprecher Rolf Kleine nicht im Raum, sondern kurz draußen. Die Stimmung stieg, alle redeten durcheinander, es kam zu völlig absurden Dialogen. Steinbrück sah sich gezwungen, über den Platz von Frank-Walter Steinmeier in einem von ihm geführten Bundeskabinett zu sprechen, das aber hatte Dieter Wonka von der »Leipziger Volkszeitung« missverstanden. Er verstand, es habe noch niemand mit Steinmeier über seinen Platz in einer rotgrünen Regierung gesprochen. Da fuhr er hoch und wunderte sich, was das denn solle, wenn man nicht einmal mit Steinmeier gesprochen habe bislang undsoweiter. Steinbrück stellte also klar, dass für Steinmeier jedes Ressort in Frage komme, er müsse es sich nur aussuchen. Dann wurde abermals die Putzfrauenaffäre verhandelt. Statt das Thema zu übergehen oder für beendet zu erklären oder auf die Staatsanwaltschaft zu verweisen, stieg der Kandidat noch einmal in die Materie ein, die Journalisten dann folglich auch wieder.
Erst danach wechselte die Farbe des Abends, als Steinbrück von einer Begegnung in einem Supermarkt im Berliner Stadtteil Wedding erzählte, wo er nun wohnte. Da habe ihm eine Rentnerin, erstaunt, dass er selbst und allein einkaufen gehe, eine Flasche »Rotkäppchen«-Sekt geschenkt und beim Hinausgehen bemerkt: »Der schmeckt übrigens gar nicht schlecht.« Steinbrück sagte, er hätte diese Dame am liebsten umarmt. Wieder eine Geschichte, die man zu Beginn des Wahlkampfs nicht für möglich gehalten hätte: dass man ihm in einem armen Stadtteil etwas schenkt, und schon gar nicht Steinbrücks emotionalen und körperlichen Impuls.
Der kommende Vormittag sah ein kleines Besuchsprogramm in einem Medienzentrum in Ludwigsburg vor. Warum er sich dort nicht die berühmte Filmhochschule ansah, bleibt ein großes sozialdemokratisches Rätsel. Es war einer der absurderen Besuche, wenig Kontakt zu Wählern, ein kurzer Termin auf einem abgelegenen Areal, das früher mal Kaserne war. Ein Fotograf hat dort sein Büro, ein netter Mann, dem Steinbrück auf einem alten Sofa gegenübersitzt. Sie plaudern über dieses und jenes, ein spezielles politisches Thema ergibt sich nicht. Der Mann ist reizend, ein Musikfan und Menschenfotograf, offenbar ganz
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