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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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allerlei halblautes Gekreisch – und das ist dann die stille, traurige Musik der Menschlichkeit.«
    »Du bist ein alter Zyniker«, sagte ich. »Im Grunde ist das gar keine so schlechte Idee.«
    »Wie alt bist du?«
    »Das solltest du eigentlich wissen. Du hast meinen letzten Geburtstag vergessen.«
    »Das beweist nur, wie alt ich bin. Na los, raus mit der Sprache.«
    »Drei Jahre älter als du.«
    »Ergo?«
    »Zweiundsechzig.«
    »Und, korrigier mich, wenn ich mich irre, du warst nicht immer so?«
    »Nein, Herr Doktor.«
    »Als junger Mann bist du ins Konzert gegangen, hast dich hingesetzt und glücklich und zufrieden der Musik gelauscht?«
    »Soweit ich mich erinnere, Herr Doktor.«
    »Und benehmen sich die anderen nun schlechter, oder wirst du mit zunehmendem Alter einfach empfindlicher?«
    »Die Leute benehmen sich wirklich schlechter. Darum werde ich empfindlicher.«
    »Und wann ist dir diese Veränderung im Benehmen der Leute aufgefallen?«
    »Als du nicht mehr mit mir mitgekommen bist.«
    »Darüber reden wir nicht mehr.«
    »Tu ich ja nicht. Du hast gefragt. Damals haben sie angefangen, sich schlechter zu benehmen. Als du nicht mehr mitgekommen bist.«
    Andrew überlegte eine Weile. »Das beweist nur, dass ich Recht habe. Es ist dir erst aufgefallen, als du allein gegangen bist. Es hat also nur etwas mit dir zu tun, nicht mit denen.«
    »Dann komm wieder mit, und es hört auf.«
    »Darüber reden wir nicht mehr.«
    »Nein, darüber reden wir nicht mehr.«
    Ein paar Tage später hab ich einem Mann auf der Treppe ein Bein gestellt. Der hatte sich ganz besonders ungehörig benommen. Kommt in letzter Minute mit einem Flittchen im kurzen Rock an; lehnt sich breitbeinig zurück und guckt sich mit unnötigen Kopfbewegungen um; schwatzt und knutscht zwischen den Sätzen (und das ausgerechnet bei dem Violinkonzert von Sibelius); raschelt mit dem Programm, das sowieso. Und dann, im letzten Satz, raten Sie mal, was er da macht? Beugt sich zu seiner Begleiterin rüber und macht ein paar Doppelgriffe auf der Innenseite ihres Schenkels. Die tut, als ob sie nichts merkt, und schlägt ihm dann zärtlich mit dem Programmheft auf die Hand, woraufhin er sich mit einem zufriedenen Lächeln auf seinem blöden, blasierten Gesicht zurücklehnt.
    In der Pause ging ich sofort auf die beiden los. Er war, sagen wir mal, uneinsichtig. Schob mich mit einem kurzen »Verpiss dich, Alter« zur Seite. Also bin ich ihnen nach, nach draußen und dann rüber zu dieser Nebentreppe auf Ebene 2 A . Er hatte es erkennbar eilig. Wollte sich wahrscheinlich räuspern und spucken und husten und niesen und rauchen und trinken und den Wecker an seiner Digitaluhr piepen lassen, damit er ja nicht vergaß, mit seinem Handy zu telefonieren. Ich verpasste ihm einen Tritt gegen den Knöchel, und er fiel kopfüber die halbe Treppe runter. Er war ein schwerer Mann, und offenbar floss auch Blut. Die Frau, mit der er da war, die sich kein bisschen höflicher benommen und höhnisch gegrinst hatte, als er »Verpiss dich, Alter« sagte, fing an zu schreien. Ja, dachte ich im Weggehen, vielleicht lernst du in Zukunft, dem Violinkonzert von Sibelius mehr Respekt entgegenzubringen.
    Es ist alles eine Sache des Respekts, nicht wahr? Und wer den nicht hat, dem muss man ihn beibringen. Der wahre Prüfstein, der einzige Prüfstein, ist der, ob wir kultivierter werden oder nicht. Meinen Sie nicht auch?

[Menü]
RINDE
    Für das Festmahl von Jean-Etienne Delacour waren nach den Anweisungen seiner Schwiegertochter Madame Amé lie die folgenden Speisen zubereitet worden: Bouillon, das darin gesottene Rindfleisch, ein gegrillter Hase, ge schmorte Tauben, Gemüse, Käse und Fruchtgelees. Dela cour gab sich widerstrebend gesellig und gestattete, dass man ihm einen Teller mit Bouillon vorsetzte; zur Feier des Tages hob er sogar einen rituellen Löffel davon an die Lippen und blies huldvoll darauf, wonach er ihn unange tastet wieder sinken ließ. Als das Rindfleisch aufgetragen wurde, nickte er dem Diener zu, der ihm, auf separaten Tellern, eine einzelne Birne sowie eine Scheibe Rinde vorlegte, die etwa zwanzig Minuten zuvor vom Baum geschnitten worden war. Delacours Sohn Charles, seine Schwiegertochter, sein Enkelsohn, sein Neffe, die Frau des Neffen, der Curé, ein Bauer aus der Nachbarschaft wie auch Delacours alter Freund André Lagrange – sie alle machten keine Bemerkung darüber. Delacour seinerseits hielt höflich Schritt mit seiner Umgebung, indem er ein Viertel der Birne

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