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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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mit dem Glas einen kleinen Stups, damit die Leute sich zu mir umdrehen, und wenn sie allein sind, rück ich ihnen ganz dicht auf den Pelz und sage: »Wissen Sie was, Sie sind eine dämliche Fotze , und ich werde Sie im Auge behalten.« Im Allgemeinen mögen sie es nicht, wenn man so mit ihnen redet. In Gegenwart von Frauen mäßige ich natürlich meine Ausdrucksweise. »Wie fühlt man sich denn so als …«, frage ich und lege dann eine Pause ein, als müsste ich nach dem genauen Begriff suchen, »… als egomanische Dumpfbacke?«
    Einer von ihnen hat einen Ordner der Festival Hall gerufen. Ich hatte seinen Plan durchschaut, darum setzte ich mich mit einem bescheidenen Glas Wasser hin, nahm mein Wappenabzeichen ab und wurde ganz entsetzlich vernünftig. »Ein Glück, dass er Sie zu mir schickt. Ich suche schon die ganze Zeit jemanden, den ich fragen kann. Welche Regelungen gelten denn in der Royal Festival Hall bezüglich hartnäckigen und ungedämpften Hustern? Vermutlich werden sie irgendwann ausgeschlossen. Wenn Sie mir das Beschwerdeverfahren genauer erläutern würden – viele Besucher des heutigen Abends werden meinen Antrag sicher nur allzu gern unterstützen, diesem, äh, Herrn künftig jede weitere Kartenbestellung zu versagen.«
    Andrew denkt sich weiterhin praktische Lösungen aus. Er sagt, ich solle doch stattdessen in die Wigmore Hall gehen. Er sagt, ich solle zu Hause bleiben und mir meine Platten anhören. Er sagt, mein Wachdienst nehme mich so in Anspruch, dass ich mich überhaupt nicht auf die Mu sik konzentrieren könne. Ich erkläre ihm, dass ich nicht in die Wigmore Hall gehen will: Kammermusik spare ich mir für später auf. Ich will in die Festival Hall, in die Al bert Hall und ins Barbican gehen, und daran kann mich niemand hindern. Andrew sagt, ich soll eine billige Karte nehmen, für das Podium oder für einen Stehplatz. Er sagt, die Leute auf den teuren Plätzen sind wie die – ja, wahr scheinlich sind es sogar dieselben –, die einen BMW, einen Range Rover oder einen großen Volvo fahren, also dämli che Fotzen, was kannst du da anderes erwarten?
    Ich erkläre ihm, ich hätte zwei Vorschläge, um für besseres Benehmen zu sorgen. Der erste wäre der Einbau von Punktstrahlern unter der Decke, und wenn jemand ein Geräusch ab einer bestimmten Lautstärke macht – die im Programm bekannt gegeben, aber auch auf der Eintrittskarte abgedruckt wird, sodass auch Nicht-Programmkäufer über die Strafe informiert sind –, dann leuchtet das Licht über seinem Platz auf und er muss bis zum Ende des Konzerts da sitzen bleiben wie am Pranger. Mein zweiter Vorschlag wäre diskreter. Alle Stühle im Saal werden verkabelt, und es wird ein kleiner Elektroschock verabreicht, dessen Stärke sich nach der Lautstärke des Hustens, Schniefens oder Niesens des Platzinhabers richtet. Das würde – wie Laborexperimente mit verschiedenen Tierarten gezeigt haben – den Täter auf mittlere Sicht davon abhalten, sich danebenzubenehmen.
    Andrew sagte, von juristischen Überlegungen einmal abgesehen, sei mit zwei wesentlichen Einwänden gegen meinen Plan zu rechnen. Erstens könnte ein Mensch auf einen Elektroschock durchaus mit noch mehr Lärm re agieren als vorher schon, was ziemlich kontraproduktiv wäre. Und zweitens würde er mein Projekt zwar sehr gern unterstützen, neige jedoch zu der Ansicht, die Einführung des elektrischen Stuhls für Konzertbesucher laufe in der Praxis möglicherweise darauf hinaus, dass diese künftig weniger Bereitschaft zum Erwerb einer Karte zeigten. Natürlich brauchte ich, wenn die Londoner Philharmoniker vor einem völlig leeren Saal spielten, keine Angst mehr vor Fremdgeräuschen zu haben, das sehe er schon ein. Mein Ziel sei damit erreicht, allerdings würde das Orchester dann wohl Sponsorengelder in unrealistischer Höhe benötigen, wenn niemand mehr da säße außer mir.
    Andrew kann so provokant sein, finden Sie nicht auch? Ich fragte ihn, ob er je versucht habe, der stillen, traurigen Musik der Menschlichkeit zu lauschen, während jemand auf dem Handy telefoniert.
    »Ich frage mich, auf welchem Instrument diese Musik wohl gespielt wird«, antwortete er. »Vielleicht auf gar keinem. Du willst an die tausend Konzertbesucher auf ihren Plätzen festschnallen, still und leise elektrischen Strom durch sie durchjagen und ihnen befehlen, dabei ja keinen Lärm zu machen, damit sie nicht einen noch stärkeren Schlag bekommen. Dann erntest du ersticktes Stöhnen und Ächzen und

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