Der Zuckerkreml
lieb und gut war und allzeit zum Plaudern
aufgelegt. Er hatte ja auch schon so viel erlebt: erst die Roten Wirren, dann die
Weißen Wirren, dann die Grauen Wirren … Drum konnte er der Enkelin eine Menge über
Russland erzählen: wie seinerzeit Nikolai Platonowitsch, was der selige Vater des
Gossudaren gewesen, die Mauern des Kreml weiß anstreichen und das Mausoleum mit der
Mumie vom roten Aufwiegler kurzerhand abreißen ließ, und wie eines Tages auf dem
Roten Platz die russischen Menschen alle ihre Auslandspässeverbrannten, und wie das alte Russland wiedergeboren wurde, und von der wackeren
Garde der Opritschniki, die den inneren Feinden den Garaus machte, und von des
Gossudaren und seiner Gossudarin wunderhübschen Kindern, ihren Zauberpuppen, und vom
Silberschimmel Budimir.
»Na, Hummel, dann frag doch mal deine schlaue Maschine,
wie viele Ziegel in der Mauer noch fehlen!«, gab der Großvater ihr auf; sein Bart
kitzelte sie.
Marfuscha tat es. Die Antwort kam prompt.
»Es sind noch 62 876 543 Ziegelsteine zu setzen, bis die
Große Russische Mauer vollendet ist«, sprach die schlaue Maschine.
»Da siehst du es, mein Enkelchen«, sprach der Großvater
augenzwinkernd in belehrendem Ton, »wenn jeder Schüler in Russland nur einen
einzigen Ziegel aus dem Lehm seines Vaterlands schnitte, dann hätte unser
Staatslenker die Mauer im Handumdrehn fertig gebaut und in Russland bräche ein
glückliches Leben an.«
Das musste man Marfuscha nicht sagen. Die Mauer wurde und
wurde nicht fertig. Zu viele innere und äußere Feinde streuten Sand ins Getriebe.
Und dass noch eine Menge Ziegelsteine zu formen und zu brennen waren, bis das große
Glück für jedermann ausbrach, das wusste sie auch. Gleichwohl, dachte Marfuscha, die
Große Mauer wächst und wächst, sie schottet Russland gegen seine äußeren Feinde ab.
(Die inneren werden von den Opritschniki in der Luft zerrissen.) Denn jenseits der
Großen Mauer treiben die verdammten Cyberpunks ihr Unwesen, die widerrechtlich unser
Gas absaugen wollen, dazu die gleisnerischen Katholiken und die gewissenlosen
Protestanten, die übergeschnappten Buddhisten und die bösartigen Moslems sowie
allerlei verderbtes, gottloses Gesindel, Satanisten, die auf öffentlichen Plätzen zu
verwerflicherMusik zappeln, abgedrehte Fixer, gierige Sodomiten,
die sich im Dunkeln gegenseitig den Po aufreißen, tückische Werwölfe, die aus ihrer
von Gott gegebenen Gestalt schlüpfen, habsüchtige Plutokraten und schadenstiftende
Virtuelle, gnadenlose Technotronen, Sadisten, Faschisten, Mega-Onanisten … Von
Letzteren hatten Marfuschas Freundinnen erzählt: Das seien schamlose Europäer, die
sich in Kellergewölben einschließen, Feuertabletten schlucken und mit stählernen
Gerätschaften an ihren Piephähnen zwacken. Zweimal schon waren diese Typen Marfuscha
im Traum erschienen, fingen sie ab auf finsteren Kellergängen, fuhren ihr mit
elektrischen Stahlhaken in die Muschi hinein … Das war grässlich!
»Marfa, geh Brot kaufen!«
Auch das noch! Sie hatte keine Lust, schon so früh am
Morgen aus dem Haus zu gehen, aber es half nichts. Marfuscha zog den Rock an und
ihre alte Pelzjacke, aus der sie schon herausgewachsen war, zwängte die Füße in die
grauen Filzstiefel, griff sich das Häkeltuch vom Ofen und legte es sich um den Kopf.
Die Großmutter gab ihr einen Silberrubel:
»Hol ein weißes Rundes und ein schwarzes Viertel. Vergiss
das Wechselgeld nicht.«
»Und für mich bring Papirossy mit, mein Enkelchen«, sagte
der Großvater, sich den Schnurrbart zwirbelnd.
»Die Wohnung ist auch so verräuchert genug«, brummte die
Großmutter, während sie Marfuscha das Tuch unterm Kinn verknotete.
Doch der Großvater, die Frohnatur, piekte der Großmutter
den Finger in die Seite.
»Oki Doki, mein Schnocki!«
Die Großmutter, bebend vor Empörung, spuckte aus.
»Dass dich der Schinder hole … alter Bock!«
Da fasste der fröhliche Großvater sie von hinten um die mageren
Schultern.
»Lass das Zischen, mein Schlängelein. Sonst zieh ich mir
noch deine Rente ins Nasenloch!«
»Das seh ich kommen, Staubsauger!«, schnaufte die
Großmutter und wollte ihn wegstoßen, doch der Großvater setzte ihr flink einen
dicken Kuss auf die Lippen.
»Ach du dummer grauer Wolf!«, lachte die Großmutter,
umarmte ihn und küsste zurück.
Marfuscha ging los.
Der Fahrstuhl durfte an Feiertagen nicht fahren –
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