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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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lieb und gut war und allzeit zum Plaudern
     aufgelegt. Er hatte ja auch schon so viel erlebt: erst die Roten Wirren, dann die
     Weißen Wirren, dann die Grauen Wirren … Drum konnte er der Enkelin eine Menge über
     Russland erzählen: wie seinerzeit Nikolai Platonowitsch, was der selige Vater des
     Gossudaren gewesen, die Mauern des Kreml weiß anstreichen und das Mausoleum mit der
     Mumie vom roten Aufwiegler kurzerhand abreißen ließ, und wie eines Tages auf dem
     Roten Platz die russischen Menschen alle ihre Auslandspässeverbrannten, und wie das alte Russland wiedergeboren wurde, und von der wackeren
     Garde der Opritschniki, die den inneren Feinden den Garaus machte, und von des
     Gossudaren und seiner Gossudarin wunderhübschen Kindern, ihren Zauberpuppen, und vom
     Silberschimmel Budimir.
    »Na, Hummel, dann frag doch mal deine schlaue Maschine,
     wie viele Ziegel in der Mauer noch fehlen!«, gab der Großvater ihr auf; sein Bart
     kitzelte sie.
    Marfuscha tat es. Die Antwort kam prompt.
    »Es sind noch 62 876 543 Ziegelsteine zu setzen, bis die
     Große Russische Mauer vollendet ist«, sprach die schlaue Maschine.
    »Da siehst du es, mein Enkelchen«, sprach der Großvater
     augenzwinkernd in belehrendem Ton, »wenn jeder Schüler in Russland nur einen
     einzigen Ziegel aus dem Lehm seines Vaterlands schnitte, dann hätte unser
     Staatslenker die Mauer im Handumdrehn fertig gebaut und in Russland bräche ein
     glückliches Leben an.«
    Das musste man Marfuscha nicht sagen. Die Mauer wurde und
     wurde nicht fertig. Zu viele innere und äußere Feinde streuten Sand ins Getriebe.
     Und dass noch eine Menge Ziegelsteine zu formen und zu brennen waren, bis das große
     Glück für jedermann ausbrach, das wusste sie auch. Gleichwohl, dachte Marfuscha, die
     Große Mauer wächst und wächst, sie schottet Russland gegen seine äußeren Feinde ab.
     (Die inneren werden von den Opritschniki in der Luft zerrissen.) Denn jenseits der
     Großen Mauer treiben die verdammten Cyberpunks ihr Unwesen, die widerrechtlich unser
     Gas absaugen wollen, dazu die gleisnerischen Katholiken und die gewissenlosen
     Protestanten, die übergeschnappten Buddhisten und die bösartigen Moslems sowie
     allerlei verderbtes, gottloses Gesindel, Satanisten, die auf öffentlichen Plätzen zu
     verwerflicherMusik zappeln, abgedrehte Fixer, gierige Sodomiten,
     die sich im Dunkeln gegenseitig den Po aufreißen, tückische Werwölfe, die aus ihrer
     von Gott gegebenen Gestalt schlüpfen, habsüchtige Plutokraten und schadenstiftende
     Virtuelle, gnadenlose Technotronen, Sadisten, Faschisten, Mega-Onanisten … Von
     Letzteren hatten Marfuschas Freundinnen erzählt: Das seien schamlose Europäer, die
     sich in Kellergewölben einschließen, Feuertabletten schlucken und mit stählernen
     Gerätschaften an ihren Piephähnen zwacken. Zweimal schon waren diese Typen Marfuscha
     im Traum erschienen, fingen sie ab auf finsteren Kellergängen, fuhren ihr mit
     elektrischen Stahlhaken in die Muschi hinein … Das war grässlich!
    »Marfa, geh Brot kaufen!«
    Auch das noch! Sie hatte keine Lust, schon so früh am
     Morgen aus dem Haus zu gehen, aber es half nichts. Marfuscha zog den Rock an und
     ihre alte Pelzjacke, aus der sie schon herausgewachsen war, zwängte die Füße in die
     grauen Filzstiefel, griff sich das Häkeltuch vom Ofen und legte es sich um den Kopf.
    Die Großmutter gab ihr einen Silberrubel:
    »Hol ein weißes Rundes und ein schwarzes Viertel. Vergiss
     das Wechselgeld nicht.«
    »Und für mich bring Papirossy mit, mein Enkelchen«, sagte
     der Großvater, sich den Schnurrbart zwirbelnd.
    »Die Wohnung ist auch so verräuchert genug«, brummte die
     Großmutter, während sie Marfuscha das Tuch unterm Kinn verknotete.
    Doch der Großvater, die Frohnatur, piekte der Großmutter
     den Finger in die Seite.
    »Oki Doki, mein Schnocki!«
    Die Großmutter, bebend vor Empörung, spuckte aus.
    »Dass dich der Schinder hole … alter Bock!«
    Da fasste der fröhliche Großvater sie von hinten um die mageren
     Schultern.
    »Lass das Zischen, mein Schlängelein. Sonst zieh ich mir
     noch deine Rente ins Nasenloch!«
    »Das seh ich kommen, Staubsauger!«, schnaufte die
     Großmutter und wollte ihn wegstoßen, doch der Großvater setzte ihr flink einen
     dicken Kuss auf die Lippen.
    »Ach du dummer grauer Wolf!«, lachte die Großmutter,
     umarmte ihn und küsste zurück.
    Marfuscha ging los.
    Der Fahrstuhl durfte an Feiertagen nicht fahren –
    

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