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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Sorokin
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Müsst noch früh genug auf Arbeit morgen!«
    Breitschultrig war Choprow, der Herr im Laden, groß und
     rotbärtig. Gekleidet in eine rote Russenbluse mit Stehkragen und eine Lammfellweste.
     Mit seinen Pranken reichte er Marfuscha Brot, Papirossy und das Wechselgeld über den
     Tresen.
    »Abflug, Libellchen!«, sprach er und zwinkerte ihr aus
     kleinen, fettgepolsterten Äuglein zu.
    Marfuscha und Sina verließen den Laden. Sinas Familie war
     arm und vom Unglück verfolgt: Zwar kannte ihr Vater sich prima mit warmen Robotern
     aus, sprach aber leider dem Branntwein zu. Und die Mama hatte erst recht keine Lust
     zum Arbeiten. Darum war Sina auch ärmlich angezogen: abgetragene Filzstiefel,
     geflickte Daunenjacke, die Mütze zwar Fuchspelz, doch alt und schäbig, bestimmt
     hatte sie die von ihrer großen Schwester Tamara übernommen.
    »Gehst du heute mit Tamara zum Roten Platz?«, fragte
     Marfuscha, während sie die Tüte mit dem Brot bequemer griff. Sina schüttelte den
     Kopf.
    »I wo, die dumme Kuh ist grad in Kolomna, kommt erst mit
     dem Nachtzug. Ich geh mit Waska.«
    Waska war ihr kleiner Bruder. Ach, hatten die’s gut, sie
     kriegten zwei Geschenke! Marfuscha musste sich gedulden, bis Mama ihr ein Brüderchen
     zur Welt brachte.
    Sie waren auf der Malaja Bronnaja gerade einmal zwei
     Häuser weit gekommen, da trat unversehens Amonja Kiewogorodski aus einer
     Seitenstraße. Amonja leibhaftig, mit seinem getreuen Elektrohund! Ihm nach eine
     Horde Leute, die Maulaffen feilhielten. Bis jetzt hatte Marfuscha Amonja, den
     Gerechten, nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen: als man ihn an Seilen über die
     Trubnaja hievte,damit er von oben das dräuende Unheil voraussah.
     Die Gossudarin würde eine zweite Fehlgeburt haben, so seine Prophezeiung, wegen des
     bösen Blicks von einer Strelitzenwitwe. Mit der war das Volk anschließend hart ins
     Gericht gegangen – an den Haaren hatte man sie den Platz hinter der
     Basiliuskathedrale bis zur Moskwa hinuntergeschleift und mit Hakenstangen unters Eis
     geschoben.
    Die Mädchen blieben stehen, um sich den gottgefälligen
     Narren näher zu besehen. Da kommt er an: abgerissen, bucklig und schmal,
     froschgleich irgendwie, mit dem elektrischen Hund an der Leine, der auf den Namen
     Kadé hört. Vor der Brust trägt Amonja ein schweres eisernes Kreuz und um die
     Schultern Ketten; Eichenholzpfropfen stecken in seinen Ohren, damit er den Krach,
     den die Leute schlagen, nicht mitanhören muss. Diese Pfropfen, so hat die Großmutter
     Marfuscha erzählt, lüftet Amonja nur einmal pro Jahr, nämlich am sechsten August,
     zum Fest der Verklärung des Herrn, um »das Taborlicht flüstern zu hören«. An den
     Pfropfen liegt es wohl auch, dass Amonja nicht redet, sondern brüllt. So auch jetzt:
    »Finster ist’s! Kein Weg nicht zu sehen!«
    Obgleich die helle Morgensonne scheint, kann Amonja den
     Weg nicht erkennen. Bleibt stehen. Mit ihm die Meute.
    »Leuchte mir! Leuchte!«, brüllt der Gerechte.
    Kadé, der Hund, lässt seine blauen Augen blitzen, wirft
     Licht vor Amonjas Füße. Der, gestützt auf seinen Knotenstock, den großen Kopf tief
     zur Erde geneigt, schnüffelt am Schnee und schreit:
    »Da saugt wer Blut!«
    In die Menge um Amonja kommt Bewegung. Besorgte Fragen:
    »Wessen Blut ist’s, das da fließen soll, Amonetschka?« –»Wer muss sich in Acht nehmen?« – »Wohin sich verziehen?« – »Wo
     Kerzen aufstellen?« – »Wem Geschenke ins Haus tragen?«
    Amonja schnüffelt am Schnee. Die Menge erstarrt.
    »Kleines Übel!«, bellt er.
    Die Menge drängt vor, Aufregung entsteht.
    »Was für ein Übel, wo? Zeig’s uns!«
    Amonja reckt sich, schießt wütende Blitze unter seinen
     Hängebrauen hervor.
    »Kleines Übel! Kleines Übel!«
    »Zeig es! Zeig uns das Übel!«, fordert die Menge.
    Kaufleute und Beamte, Landstreicher und Bettler, Kokser
     und Trunkenbolde, chinesische Hausierer und tatarische Sbitenschenke, Halbwüchsige
     und Kinderlein, alle miteinander betteln sie: Zeig uns das Übel, zeig es!
    Amonja richtet sich auf, schleudert den Arm hervor: »Hebt
     mich auf!«
    Die Menge ward geschäftig. Man klopfte an die nächstbesten
     Türen und Fenster, darin Gesichter auftauchten. Derweil entnahmen die vier
     schweigenden Gesellen des Gerechten ihren Schultersäcken Wickel aus kräftigen
     Seilen. Im Handumdrehen waren die Seile an den Balkonen angebracht, baumelten aus
     den Fenstern. Schon war auch ein Verkehrsposten zur Stelle, der die

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