Der Zug War Pünktlich
man in Lemberg den Stempel kriegt. Willi brennt geradezu darauf, es zu erzäh- len. Aber Andreas möchte es nicht erfahren. Es ist ihm recht, wenn sie den Stempel kriegen. Der zivile D-Zug ist ihm sehr recht. Es ist wunderbar, in einem zivilen Zug zu fahren. Da sind nicht nur Soldaten, nicht nur Männer. Es ist furchtbar, immer nur unter Männern zu sein, die Män- ner sind so weibisch. Da aber werden Frauen sein … Po- linnen … Rumäninnen … Deutsche … Spioninnen … Di- plomatenfrauen. Es ist sehr schön, in einem Zug mit Frau- en zu fahren … bis … bis … dahin, wo ich sterben werde. Was wird geschehen? Partisanen? Es gibt überall Partisa- nen, aber warum sollen die Partisanen einen Zug mit Zivi- listen überfallen? Es gibt Urlauberzüge genug, in denen ganze Regimenter von Soldaten sind, mit Waffen, Gepäck, Verpflegung, Kleidung, Geld und Munition.
Willi ist enttäuscht, daß Andreas nicht fragt, wo er in Lernberg den Stempel herkriegen wird. Er möchte so ger- ne von Lemberg erzählen. »Lemberg«, ruft er aus und lacht. Und da Andreas noch immer nicht fragt, fängt er einfach an: »In Lemberg, weißt du, haben wir nämlich immer die Autos verscheuert.«
»Immer?« Andreas horcht auf. »Immer verscheuert?«
»Ich meine, wenn wir eins zu verscheuern hatten. Wir sind ja Reparaturwerkstatt, und da bleibt so manches
Wrack übrig, so manches Wrack, was gar kein Wrack ist. Man braucht nur zu sagen, das ist Schrott. Gut. Und der Oberintendant muß ja sämtliche Augen zudrücken, weil er doch immer mit der Czernowitzer Jüdin gepennt hat. Es ist aber gar kein Schrott, das Auto, verstehst du? Man kann aus zweien oder dreien ein fabelhaftes Auto machen, die Russen können das fabelhaft.
Und in Lemberg geben sie vierzigtausend blanke Eier dafür. Geteilt durch vier. Ich und die drei Mann aus mei- ner Kolonne. Es ist natürlich lebensgefährlich, man muß schon was riskieren.« Er seufzt schwer. »Man schwitzt Blut dabei, das ist klar. Man weiß nie, ob der, mit dem man verhandelt, nicht von der Gestapo ist, das weiß man nie, bis zum Schluß nicht. Vierzehn Tage schwitzt man schon Blut dabei. Wenn in vierzehn Tagen keine Meldung da ist oder keiner verhaftet von denen, die dabei waren, dann hat man mal wieder gewonnen. Vierzigtausend blan- ke Eier.« Er trinkt wohlgefällig Bier. »Wenn ich daran denke, was da jetzt alles im Schlamm um Nikopol herum liegenbleibt. Millionen, sag ich dir, einfach Millionen! Und keine Sau hat was davon, nur die Russen. Weißt du«, er fängt genießerisch an zu rauchen, »auch zwischendurch konnte man schon mal was verscheuern, was weniger ge- fährlich war. Mal ein wertvolles Ersatzteil, mal ‘nen Mo- tor oder Reifen. Auch Kleider. Sie sind wahnsinnig scharf auf Kleider. Mäntel … das sind fast tausend Mark, ein gu- ter Mantel. Zu Hause, weißt du, hab ich mir ein kleines Häuschen gebaut, ein nettes kleines Häuschen mit einer Werkstatt … zu … zu, wie?« fragt er plötzlich. Aber An- dreas hat nichts gesagt, er blickt ihn schnell an und sieht, daß sein Auge finster ist, seine Stirn gefurcht, und daß er hastig den Rest seines Bieres austrinkt. Das alte Gesicht ist
auch ohne Bart wieder da … die Sonne ist immer noch golden über den Türmen von Przemysl am San, und der Blonde regt sich. Man sieht, daß er nur so getan hat, als ob er schliefe. Er spielt den Erwachenden. Er räkelt sich sehr lange, dreht sich um und schlägt die Augen auf, aber er weiß nicht, daß die Tränenspuren in seinem schmutzigen Gesicht gut zu lesen sind. Es sind richtige Rillen, Rillen in dem Dreck wie bei einem ganz kleinen Mädchen, dem man auf dem Spielplatz das Butterbrot geklaut hat. Er weiß es nicht, vielleicht weiß er überhaupt nicht mehr, daß er geweint hat. Seine Augen sind rot an den Rändern und sehen häßlich aus; man könnte meinen, daß er wirklich geschlechtskrank ist …
»Au«, sagt er gähnend, »fein, daß es was zu fressen gibt.« Sein Bier ist ein bißchen lau geworden, aber er trinkt es durstig und schnell und beginnt zu essen, wäh- rend die beiden anderen rauchen und sehr langsam und ohne Hast Wodka trinken, wasserklaren wunderbaren Wodka, den Willi ausgepackt hat.
»Ja«, lacht Willi, aber er bricht so plötzlich ab, daß die beiden anderen ihn erschreckt ansehen, Willi wird rot, blickt zur Erde und nimmt einen großen Schluck Wodka.
»Was«, fragt Andreas ruhig, »was wolltest du sagen?«
Willi spricht sehr leise. »Ich wollte sagen, daß ich jetzt unsere
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