Der Zug War Pünktlich
Hypothek versaufe, buchstäblich unsere Hypothek. Auf dem Haus, das meine Frau mitgebracht hat, war näm- lich noch ‘ne Hypothek, eine kleine von vier Mille, und die wollte ich jetzt abtragen … aber los, trinken wir, Prost!«
Auch der Blonde hat keine Lust, irgendwo in die Stadt zu gehen zu einem Friseur oder in den Waschraum da un- ten in einer Baracke. Sie nehmen ihre Handtücher und die
Seife unter den Arm und gehen ab.
»Auch die Stiefel fein geputzt, Kinder!« ruft Willi ihnen nach. Er hat tatsächlich blankgewichste Stiefel.
Da ist irgendwo am Ende eines Gleises eine große Was- serpumpe für die Lokomotiven, die stetig und leise tropft, ein dünner regelmäßiger Faden Wasser fließt draus hervor, und ringsum im Sand ist eine Pfütze. Es ist wirklich schön, sich zu waschen. Wenn nur die Seife richtig schäumen wollte. Andreas nimmt seine Rasierseife. Ich brauche sie nicht mehr, denkt er. Sie ist zwar für drei Monate, und vor vier Wochen erst habe ich sie »empfangen«, aber ich brauche sie nicht mehr, und was übrigbleibt, ist für die Partisanen. Auch die Partisanen brauchen Seife, die Polen rasieren sich so gern. Rasieren und Schuheputzen sind ihre Spezialitäten. Aber als sie anfangen wollen, sich zu rasie- ren, sehen sie oben Willi rufen und winken, und seine Be- wegungen sind so eindrucksvoll und wirklich dramatisch, daß sie alles zusammenpacken und sich im Zurücklaufen abtrocknen.
»Kinder«, schreit Willi, »da ist ein verspäteter Frontur- lauber nach Kowel, läuft eben ein, da sind wir in vier Stunden in Lemberg, in Lemberg laßt ihr euch rasieren
…« Sie ziehen Röcke und Mäntel wieder an, setzen die Mützen auf, gehen mit ihrem Gepäck auf den Bahnsteig, wo der verspätete Fronturlauber nach Kowel steht. In Przemysl steigen nicht viele aus, aber Willi entdeckt ein Abteil, dem eine ganze Gruppe Panzersoldaten entsteigt, junge, neueingekleidete Jungens, die eine Wolke von Kammergeruch verbreiten. Da ist ein ganzer Flur leer ge- worden, und sie steigen schnell ein, ehe die, die drin ge- blieben sind, sich mit ihrem Gepäck haben ausbreiten können.
»Vier Uhr«, ruft Willi triumphierend, »da sind wir aller- spätestens um zehn in Lemberg. Prima. Pünktlicher hätte er sich nicht verspäten können, dieser Prachtzug. Eine ganze Nacht für uns, eine ganze Nacht!«
Sie haben sich schnell eingerichtet, so, daß sie sich we- nigstens mit dem Rücken anlehnen können.
Andreas trocknet sich im Sitzen erst richtig die Ohren ab, die noch naß sind, packt seine Tasche aus und ordnet das schnell hineingestopfte Gepäck neu. Da ist jetzt ein schmutziges Hemd, eine schmutzige Unterhose und ein Paar saubere Socken, ein Rest Wurst, ein Rest Butter in der Dose. Die Wurst für Montag und die Butter für den halben Montag und die Drops für Sonntag und Montag und Zigaretten, die ihm sogar noch zustehen, und Brot so- gar noch von Sonntag mittag; und das Gebetbuch, das Ge- betbuch hat er den ganzen Krieg mitgeschleppt und nie gebraucht. Er hat immer so gebetet, aber er könnte keine Reise antreten ohne es. Es ist seltsam, denkt er, alles ist seltsam, und er steckt sich eine Zigarette an, die ihm sogar noch zusteht, eine Zigarette für Samstag, für die Verpfle- gungsperiode von Freitagmittag bis Samstagmittag …
Der Blonde spielt, und sie rauchen alle beide schwei- gend, während der Zug abfährt. Der Blonde spielt jetzt richtig, er scheint zu phantasieren, es sind keine richtigen, bekannten Melodien, seltsam weiche, erregende, völlig formlose Gebilde, die an Sumpf denken lassen.
Ja, denkt Andreas, Ssiwasch-Sümpfe, was mögen die da jetzt machen an ihrem Geschütz? Er schaudert. Vielleicht haben sie sich gegenseitig umgebracht, vielleicht haben sie den Wachtmeister kaltgemacht, vielleicht sind sie abge- löst. Hoffentlich sind sie abgelöst. Diese Nacht werde ich für die an dem Geschütz in den Ssiwasch-Sümpfen beten,
auch für den, der für Großdeutschland gefallen ist, weil er nicht, weil er nicht … so werden wollte; das ist wahrhaft ein Heldentod. Sein Gebein liegt irgendwo in einem Sumpf da oben in der Krim, kein Mensch kennt sein Grab, kein Mensch wird ihn ausgraben und ihn auf einen Hel- denfriedhof bringen, kein Mensch wird mehr daran den- ken, und eines Tages wird er auferstehen, da oben aus den Ssiwasch-Sümpfen, Vater zweier Kinder, dessen Frau in Deutschland wohnt, und der der Ortsgruppenleiter mit furchtbar traurigem Gesicht den Brief gebracht hat, in Bremen oder in Köln, oder
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