Der Zug War Pünktlich
denken, man muß an Willi denken. Immer noch liegt der Blonde mit dem Gesicht über den verschränkten Armen da auf seiner Decke, und seinem schweren Atem ist nicht anzuhören, ob er schläft, stöhnt oder weint.
»Schläft er?« fragt Willi.
»Ja.« Willi packt aus und legt alles fein säuberlich auf zwei Haufen. »Für drei Tage«, sagt er. Das ist für jeden ein ganzes Brot, ein großes Stück Kochwurst, deren Um- wickelpapier naß geworden ist von dem Saft, der heraus- tropft. Das ist für jeden etwas weniger als ein halbes Pfund
Butter und achtzehn Zigaretten und drei Rollen Drops.
»Du hast nichts?« fragt Andreas.
Willi blickt ihn erstaunt, fast beleidigt an. »Ich hab doch für sechzehn Tage meine Marken.« Es ist seltsam, daß das alles kein Traum ist, was Willi erzählt hat in der Nacht. Es ist Wahrheit, es ist derselbe Mensch, der da vor ihm steht, glatt rasiert und mit ruhigen, nur ein wenig schmerzlichen Augen, der jetzt sehr vorsichtig, damit die Bügelfalte nicht zerstört wird, im Schatten der Fichte seine schwarze Pan- zerhose anzieht. Eine nagelneue Hose, die ihm vorzüglich steht. Er sieht jetzt vollkommen wie ein Unteroffizier aus.
»Hier ist auch Bier«, sagt Willi. Er packt drei Flaschen Bier aus, sie setzen Willis Karton zwischen sich als Tisch und beginnen zu essen. Der Blonde rührt sich nicht, er liegt da auf dem Gesicht, wie manche Gefallenen liegen. Willi hat polnischen Speck, Weizenbrot und Zwiebeln. Das Bier ist vorzüglich, es ist sogar kühl.
»Diese polnischen Friseure«, sagt Willi, »fabelhaft. Für sechs Mark, alles zusammen, bist du ein anderer Mensch, sogar die Haare gewaschen. Einfach fabelhaft, und wie die Haare schneiden können!« Er nimmt seine Schirmmütze ab und zeigt auf den gut modellierten Hinterkopf. »Das nenne ich Haarschneiden.« Andreas blickt ihn immer noch erstaunt an. Willis Augen haben jetzt etwas Sentimentales, etwas Unteroffiziersentimentales. Es ist gemütlich, so wie an einem richtigen Tisch zu essen, fernab von den Barak- ken.
»Ihr«, sagt Willi kauend und wohlgefällig trinkend, »ihr solltet euch auch waschen gehen oder waschen lassen, man ist ein anderer Mensch. Alles weg, der ganze Dreck weg. Und erst rasieren! Du könntest es gebrauchen.« Er blickt auf Andreas’ Kinn. »Du könntest es wahrhaftig ge-
brauchen. Mensch, das ist fabelhaft, man ist nicht mehr müde, man … man …«, er sucht nach einem passenden Wort, »man ist einfach ein anderer Mensch. Es ist noch Zeit, noch zwei Stunden, bis unser Zug fährt. Heute abend sind wir in Lemberg. Von Lemberg fahren wir mit dem zivilen D-Zug, dem Kurierzug, der von Warschau nach Bukarest durchfährt. Ein fabelhafter Zug, ich fahre immer damit, man muß nur einen Stempel haben, und den Stem- pel kriegen wir«, er lacht laut, »den Stempel kriegen wir, aber ich verrate euch nicht wie …«
Wir werden doch nicht vierundzwanzig Stunden brau- chen von Lemberg bis an jenen Punkt, wo es geschieht, denkt Andreas. Irgendwas stimmt da nicht. Wir werden nicht morgen früh um fünf schon wieder von Lemberg fahren. Die Butterbrote schmecken fabelhaft. Er schmiert die Butter dick aufs Brot und ißt die saftige Wurst in dik- ken Würfeln dazu. Das ist sehr seltsam, denkt er, das ist die Butter für Sonntag und vielleicht schon ein Teil der Butter für Montag, ich esse Butter, die mir gar nicht mehr zusteht. Auch die Butter für Sonntag steht mir nicht mehr zu. Die Verpflegung rechnet von Mittag zu Mittag, und für Sonntag mittag steht mir keine Butter mehr zu. Vielleicht werden sie mich vors Kriegsgericht stellen … sie werden meine Leiche einem Kriegsgerichtsrat aufs Pult legen und werden sagen: er hat die Butter für Sonntag gegessen und sogar einen Teil der Butter für Montag, er hat die glorrei- che deutsche Wehrmacht bestohlen. Er hat gewußt, daß er sterben wird, und hat doch die Butter noch gegessen und das Brot und die Wurst und die Drops und die Zigaretten geraucht, das können wir nirgendwo buchen. Nirgendwo wird Verpflegung für die Toten gebucht. Wir sind ja schließlich keine Heiden, die den Toten Verpflegung mit
ins Grab geben. Wir sind positive Christen, und er hat die positiv christliche, großdeutsche, glorreiche Wehrmacht bestohlen. Wir müssen ihn verurteilen …
»In Lemberg«, lacht Willi, »in Lemberg werde ich schon den Stempel kriegen. In Lemberg kann man alles kriegen, ich weiß da Bescheid.«
Andreas brauchte nur ein Wort zu sagen, zu fragen, und er würde erfahren, wie und wo
Weitere Kostenlose Bücher