Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
in Leverkusen, vielleicht wohnt seine Frau in Leverkusen. Er wird auferstehen von oben weit her aus den Ssiwasch-Sümpfen, und es wird an den Tag kommen, daß er gar nicht für Großdeutschland gefallen ist, auch nicht, weil er gemeutert und den Wachtmeister angegriffen hat, sondern weil er nicht so werden wollte.
    Sie schrecken beide auf, als der Blonde das Spiel ganz plötzlich unterbricht; sie waren eingefangen, regelrecht umsponnen von diesen weichen sanften schleierhaften Melodien, und nun ist das Gespinst plötzlich zerrissen.
    »Da«, sagt der Blonde, und er zeigt auf den Arm eines Soldaten, der am Fenster steht und Pfeife raucht, »das ha- ben wir gemacht, zu Hause. Komisch, man sieht so weni- ge, dabei haben wir Tausende gemacht.« Sie begreifen nicht, was er meint. Der Blonde blickt verwirrt und errö- tend in ihre fragenden Augen. (Krimschilder), sagt er fast ärgerlich. »Krimschilder haben wir viel gemacht. Jetzt machen sie Kubanschilder, die kommen bald raus. Auch Panzerabschußzeichen haben wir gemacht, und damals die Sudetenorden mit der kleinen winzigen Plakette, wo der Hradschin drauf war. Achtunddreißig.« Sie blicken ihn
    immer noch an, als spreche er hebräisch, immer noch fra- gend, und er errötet noch mehr.
    »Mensch«, schreit er jetzt fast, »wir hatten doch eine Fabrik zu Hause!«
    »Ach so«, machen die beiden.
    »Ja, eine vaterländische Fahnenfabrik.«
    »Fahnenfabrik?« fragte Willi.
    »Ja, man nennt das so, wir haben natürlich auch Fahnen gemacht. Waggonweise Fahnen, sag ich euch, damals … na … ich glaube dreiunddreißig. Klar, da muß es gewesen sein. Aber hauptsächlich machten wir Orden und Plaketten und Abzeichen für Vereine, wißt ihr, so Plaketten, wo drauf steht: Dem Klubsieger von neunzehnhundertvier- unddreißig oder so. Und Abzeichen von Sportvereinen und Hakenkreuznadeln und so kleine Fähnchen aus Blech, die man sich anstecken kann. Blau-Weiß-Rot, oder französi- sche quergestreifte Blau-Weiß-Rot. Wir haben viel ausge- führt. Aber seit Krieg ist, haben wir nur noch für uns ge- macht. Auch Verwundetenabzeichen, massenhaft Ver- wundetenabzeichen.
    Schwarze, silberne und goldene. Aber schwarze, schwarze massenhaft. Wir haben viel Geld verdient. Auch alte Orden vom Weltkrieg haben wir gemacht und Front- kämpfernadeln, massenhaft Frontkämpfernadeln, und die kleinen Spangen, die man auf Zivilanzügen trägt. Ja …«, er seufzt, bricht plötzlich ab, blickt noch einmal auf das Krimschild des Soldaten, der im Fenster liegt und noch immer Pfeife raucht, und dann fängt er wieder an zu spie- len. Leise, leise beginnt es zu dämmern … und der Däm- mer kommt dann plötzlich übergangslos, quillt stärker und dunkler, und es ist schnell Abend, und man spürt, daß die kühle Nacht vor der Schwelle steht. Der Blonde spielt sei-
    ne sumpfigen Melodien, die in sie hineinträumen wie Nar- kotika … Ssiwasch, denkt Andreas, ich muß für die Leute an den Geschützen in den Ssiwasch-Sümpfen beten, ehe ich einschlafe. Er merkt, daß er wieder einzuschlafen be- ginnt, die vorletzte Nacht. Er betet … betet … aber die Worte verwirren sich, alles schwimmt durcheinander … Willis Frau mit dem roten Pyjama … die Augen … der französische Kleinbürger … der Blonde und der, der ge- sagt hat: Praktisch, praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen …
    Diesmal wacht er auf, weil der Zug lange hält. An den Stationen ist das etwas anderes, da gähnt man nur einmal hoch und man spürt die Ungeduld in den Rädern, und man weiß, daß es bald weitergeht. Aber jetzt hält der Zug so lange, daß die Räder festgefroren scheinen. Der Zug steht. Nicht auf einer Station, auf einem Nebengleis. Andreas tastet sich verwirrt hoch und sieht, daß alle sich an den Fenstern drängen. Er kommt sich verlassen vor, so allein in dem dunklen Flur, vor allem, weil er Willi und den Blonden nicht gleich erkennt. Die beiden müssen ganz vorne an den Fenstern stehen. Es ist dunkel draußen und kalt, und er denkt, daß es mindestens ein oder zwei Uhr ist. Er hört, daß draußen Waggons vorbeirollen, und er hört, daß die Soldaten in den Zügen Lieder singen … ihre alten, blöden, stumpfsinnigen Lieder, die so tief in ihren Eingeweiden sitzen, daß sie dort eingegraben sind wie ei- ne Melodie in eine Grammophonplatte, und wenn sie den Mund aufmachen, dann singen sie, singen sie diese Lieder: Heidemarie und Wildbretschütz … Auch er hat sie manchmal gesungen, ohne zu wissen und zu wollen, diese

Weitere Kostenlose Bücher