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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Mit seiner eigenen Pistole; dann hat er uns rausgeschmis- sen aus den Betten, und wir mußten ihm helfen, die Leiche in den Sumpf zu schmeißen. Leichen sind schwer … Mensch, Menschenleichen sind entsetzlich schwer. Lei- chen sind schwerer als die ganze Welt; wir sechs konnten ihn kaum tragen, es war dunkel und es regnete und ich dachte: das ist die Hölle. Und der Wachtmeister hat eine Meldung gemacht, daß der Alte gemeutert und ihn mit der Waffe bedroht hat, und er hat die Pistole von dem Alten als Beweisstück mitgebracht, da fehlte doch eine Patrone. Und sie haben seiner Frau einen Brief geschickt, daß er gefallen ist für Großdeutschland in den Ssiwasch-Sümpfen
    … ja; und acht Tage danach kam das erste Verpflegungs- auto und brachte ein Telegramm für mich, daß unsere Fa- brik kaputt war, und ich sollte in Urlaub fahren; und ich bin gar nicht mehr zurück in die Stellung, einfach weg!« eine wilde Freude ist in seiner Stimme, »weg war ich! Er wird getobt haben! Und sie haben mich auf der Schreib- stube erst als Zeugen vernommen wegen des Alten, und ich habe genauso gesagt, wie der Wachtmeister gemeldet hatte. Und dann weg … weg! Von der Batterie zur Abtei- lung nach Otschakow, dann Odessa und weg …« Furcht- bares Schweigen, während die Sonne immer noch schön ist, warm und sanft; Andreas fühlt einen grauenhaften Ekel. Das ist das Schlimmste, denkt er, das ist das Schlimmste …
    »Keine Freude hab ich mehr gehabt und keine kann ich mehr finden. Ich habe Angst, eine Frau anzusehen. Hinge-
    dämmert und geheult habe ich zu Hause die ganze Zeit wie ein schwachsinniges Kind, und meine Mutter hat ge- dacht, ich hätte eine furchtbare Krankheit. Aber ich hab’s ihr doch nicht sagen können, das kann man keinem Men- schen sagen …«
    Wie wahnsinnig, daß die Sonne so scheint, denkt Andre- as, und ein schrecklicher Ekel sitzt ihm wie Gift im Blut. Er versucht die Hand des Blonden zu ergreifen, aber der fährt entsetzt zurück. »Nicht«, schreit er, »nein!« Er wälzt sich auf dem Bauch, verbirgt den Kopf unter den Händen und schluchzt, schluchzt. Es ist ein Schluchzen, als müsse die Erde bersten und sich öffnen, und über diesem Schluchzen lächelt der Himmel, über den Baracken, über den vielen Baracken und über den Türmen von Przemysl am San …
    »Sterben«, schluchzt der Blonde, »nichts als sterben. Ich will sterben, dann ist Schluß. Sterben …« Seine Worte er- sticken in einem Würgen, und Andreas hört jetzt, daß er Tränen weint, richtige nasse Tränen.
    Andreas sieht nichts mehr. Eine Walze aus Blut und Dreck und Schleim hat sich über ihn gewälzt, er hat gebe- tet, verzweifelt gebetet, so wie ein Ertrinkender schreit, der einsam draußen auf einem See treibt und kein Ufer und keinen Retter sieht …
    Das ist schön, denkt er, weinen ist schön … weinen ist gut … weinen, weinen, welcher unglückliche Mensch hat nie geweint? Auch ich müßte weinen, das ist es. Der Bärti- ge hat geweint, und der Blonde weint, und ich, ich habe dreiundeinhalb Jahre nicht mehr geweint, keine Träne ge- weint, seitdem ich den Berg hinunter auf Amiens zu wieder zurückging und zu faul war, die drei Minuten weiter zu ge- hen, bis an den Acker, wo ich verwundet worden war.
    Auch der zweite Zug ist abgefahren, der Bahnhof ist jetzt leer. Seltsam, denkt Andreas, selbst wenn ich möchte, könnte ich jetzt nicht mehr zurückfahren. Unmöglich könnte ich diese beiden allein lassen. Und ich möchte auch nicht zurück, nie mehr zurück …
    Der Bahnhof mit seinen verschiedenen Gleisen ist jetzt ganz leer. Es flimmert zwischen den Schienensträngen, und irgendwo hinten am Eingang arbeitet eine Gruppe von Po- len, die Schotter aufschütten, und über den Bahnsteig kommt jetzt eine merkwürdige Gestalt, die die Hose des Unrasierten anhat. Schon von weitem sieht man, daß das nicht mehr der bärtige, wilde, verzweifelte Bursche ist, der im Zug gehockt und vor Kummer Schnaps getrunken hat. Das ist ein anderer Mensch, nur die Hose ist noch die des Unrasierten. Sein Gesicht ist ganz glatt und rosig, und die Mütze sitzt ein wenig schief, und in den Augen, als er näher kommt, ist etwas richtig Unteroffiziersmäßiges, ein Ge- misch aus Kälte, Spott, Zynismus und Militarismus. Diese Augen scheinen ausgeträumt zu haben, der Unrasierte ist rasiert, gewaschen und gekämmt, seine Hände sind sauber, und es ist gut, zu wissen, daß er Willi heißt, denn man kann jetzt an ihn nicht mehr als an den Unrasierten

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