Der Zug War Pünktlich
als ich die Schule hinter mir hatte, da war neunzehnhundertneununddreißig, und ich mußte in den Arbeitsdienst, und als ich den Arbeitsdienst hinter mir hatte, da war inzwischen Krieg, das sind vierundeinhalb Jahre, und ich habe kein Klavier mehr berühren können seitdem. Ich wollte Pianist werden. Ich träumte davon, ge- nausogut wie andere davon träumen, Oberstudiendirektor zu werden. Aber ich, ich wollte Pianist werden, und ich liebte nichts auf der Welt so sehr wie das Klavier, aber es war nichts. Erst Abitur, dann Arbeitsdienst, und dann hat- ten sie Krieg angefangen, die Schweine … Der Schmerz sitzt ihm in der Kehle, und er ist nie so elend gewesen wie jetzt. Es ist gut, daß ich leide. Vielleicht wird mir darum verziehen, daß ich hier in einem Lemberger Bordell neben der Opernsängerin sitze, die die ganze Nacht zweiundein- halb Scheine kostet ohne die Streichhölzer und ohne das Klavier, das sechs Scheine kostet. Vielleicht wird mir das alles verziehen, weil ich jetzt vor Schmerz ganz gelähmt bin; vor Schmerz ganz gelähmt, weil sie das Wort Piani-
stin und Klavier gesagt hat. Er ist wahnsinnig, dieser Schmerz, er sitzt wie scharfes Gift in der Kehle und sinkt langsam tiefer, die Speiseröhre hinab in den Magen und verteilt sich in den ganzen Körper. Vor einer halben Stun- de war ich noch glücklich, weil ich Sauternes getrunken hatte, weil ich an die Terrasse über Le Tréport gedacht ha- be, wo die Augen ganz nahe bei mir gewesen sind und wo ich ihnen vorgespielt habe, diesen Augen, in Gedanken, und jetzt bin ich von Schmerz verbrannt in diesem Bordell neben diesem schönen Mädchen, um das mich die ganze glorreiche deutsche Wehrmacht beneiden würde. Und ich bin froh, daß ich leide, ich bin froh, daß ich vor Schmerz bald umsinke, ich bin glücklich, weil ich leide, wahnsinnig leide, weil ich hoffen darf, daß mir alles verziehen wird, daß ich nicht bete, bete, bete, nur bete und auf den Knien liege, die letzten zwölf Stunden vor meinem Tode. Aber wo könnte ich denn auf den Knien liegen? Nirgendwo in der Welt könnte ich ungestört auf den Knien liegen. Ich werde Olina sagen, daß sie Wache halten soll an der Tür, und ich werde sechshundert Mark für das Klavier bezahlen lassen von Willi, und zweihundertfünfzig Mark für die schöne Opernsängerin ohne die Streichhölzer, und ich werde Olina eine Flasche Wein stiften, damit es ihr nicht langweilig wird …
»Was ist denn?« fragt Olina. Ihre sanfte Stimme ist er- staunt, seitdem er nein gerufen hat.
Er blickt sie an, und es ist schön, ihre Augen zu sehen. Graue, sehr sanfte, traurige Augen. Er muß ihr antworten.
»Nichts«, sagt er, und dann fragt er plötzlich, und es ist eine wahnsinnige Anstrengung, aus diesem mit dem Gift des Schmerzes gefüllten Mund die wenigen Worte heraus- zu-zwingen: »Hast du das Klavier zu Ende studiert?«
»Nein«, sagt sie kurz, und es ist sicher grausam, sie zu fragen, dann wirft sie die Zigarette in den großen blecher- nen Aschenbecher, den sie zwischen die beiden Sessel auf den Boden gesetzt hat, und dann fragt sie wieder sehr leise und sanft: »Soll ich dir erzählen?«
»Ja«, sagt er, und er wagt nicht, sie anzusehen, denn er hat Angst vor diesen grauen Augen, die ganz ruhig sind.
»Gut«, aber sie spricht noch nicht. Sie blickt auf den Boden, er spürt, wie sie den Kopf hebt, und sie fragt plötz- lich: »Wie alt bist du?«
»Im Februar würde ich vierundzwanzig«, sagt er leise.
»Im Februar würdest du vierundzwanzig. Du würdest … wirst nicht?«
Er sieht sie erstaunt an. Wie feine Ohren sie hat! Und plötzlich weiß er, daß er es ihr sagen wird, ihr allein wird er es sagen. Sie ist der einzige Mensch, der alles erfahren soll, daß er sterben wird, morgen früh, kurz vor sechs, oder kurz nach sechs in …
»Ach«, sagt er, »ich rede nur so. Welcher Ort«, fragt er plötzlich, »liegt vierzig Kilometer hinter Lemberg auf … auf Czernowitz zu?« …
Sie ist immer mehr erstaunt. »Stryj«, sagt sie.
Stryj? Welch seltsamer Name, denkt Andreas, ich muß ihn auf der Karte übersehen haben. Um Gottes willen, ich muß noch für die Juden von Stryj beten. Hoffentlich sind noch Juden in Stryj … Stryj … das wird es also sein, er wird vor Stryj sterben … nicht einmal Stanislau, nicht einmal Kolomea und lange, lange nicht Czernowitz. Stryj! Das ist es! Vielleicht ist es gar nicht auf der Karte drauf, die Willi gehört hat …
»Vierundzwanzig wirst du im Februar«, sagt Olina,
»komisch,
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