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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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ich auch.« Er sieht sie an. Sie lächelt. »Ich
    auch«, sagt sie, »ich bin am zwölften Februar neunzehn- hundertundzwanzig geboren.«
    Sie blicken sich lange an, sehr lange, und ihre Augen versinken ineinander, und dann beugt Olina sich zu ihm, und da der Abstand zwischen den Sesseln zu groß ist, steht sie auf, kommt auf ihn zu und will ihn umarmen … aber er wehrt ab. »Nein«, sagt er still, »nicht das, sei nicht böse, später … ich erkläre es dir … ich … ich bin am fünfzehn- ten Februar geboren …«
    Sie raucht wieder, es ist gut, daß sie nicht gekränkt ist. Sie lächelt. Sie denkt, er hat ja die ganze Nacht das Zim- mer gemietet und mich. Und es ist erst sechs, noch nicht ganz sechs …
    »Du wolltest mir doch erzählen«, sagt Andreas.
    »Ja«, sagt sie, »wir sind beide gleich alt, das ist schön. Zwei Tage bin ich älter als du. Ich bin sicher deine Schwe- ster …« Sie lacht. »Vielleicht bin ich wirklich deine Schwester.«
    »Erzähl doch bitte.«
    »Ja«, sagt sie, »ich erzähle ja. In Warschau bin ich aufs Konservatorium gegangen. Du wolltest doch von meinen Studien hören, nicht wahr?«
    »Ja!«
    »Kennst du Warschau?«
    »Nein.«
    »Gut. Also. Warschau ist eine große Stadt, eine schöne Stadt, und das Konservatorium war in einem Haus wie dieses hier. Nur der Garten war größer, viel größer. In den Pausen konnten wir in diesem schönen großen Garten Spazierengehen und poussieren. Sie sagten, ich sei sehr begabt. Ich ging in die Klavierklasse. Ich hätte lieber erst nur Cembalo gespielt, aber das lehrte keiner, und so mußte
    ich in die Klavierklasse gehen. Als Aufnahmeprüfung mußte ich eine ganz kleine, einfache Beethoven-Sonate spielen. Das war gefährlich. Diese einfachen kleinen Sa- chen verschmiert man so leicht, oder man macht sie zu pa- thetisch. Das ist sehr schwer, diese einfachen Sachen zu spielen. Es war Beethoven, weißt du, Beethoven war es ja, aber ein sehr früher, fast noch ganz klassischer, fast noch Haydn. Ein ganz raffiniertes Stück für eine Aufnahmeprü- fung, verstehst du?«
    »Ja«, sagt Andreas, und er spürt, daß er bald weinen wird.
    »Gut, ich bestand mit Sehr gut. Ich lernte und musizierte bis … na … bis der Krieg kam. Klar, das war Herbst neununddreißig, zwei Jahre, da hab ich viel gelernt und viel poussiert. Ich hab immer gern geküßt und alles, weißt du? Ich konnte schon ganz gut Liszt spielen, und Tschai- kowskij. Aber Bach habe ich nie so richtig gekonnt. Ich hätte gern Bach gespielt. Und Chopin konnte ich auch ganz gut. Gut.
    Dann kam der Krieg … ach, da war ein Garten hinter dem Konservatorium, so ein wunderbarer Garten, da wa- ren Bänke und Lauben, und manchmal hatten wir Feste, da wurde musiziert und getanzt … einmal ein Mozartfest … ein wunderbares Mozartfest. Mozart konnte ich auch schon ganz gut spielen. Nun, es kam eben der Krieg!«
    Sie bricht ganz plötzlich ab, und Andreas blickt sie fra- gend an. Sie sieht böse aus. Die Haare sträuben sich über dieser Fragonardstirn.
    »Mein Gott«, sagt sie ärgerlich, »mach mit mir, was die anderen auch machen. Dieser Quatsch!«
    »Nein«, sagt Andreas, »du mußt erzählen.«
    »Das«, sagt sie mit gerunzelter Stirn, »das kannst du
    nicht bezahlen.«
    »Doch«, sagt er, »ich werde mit gleicher Münze bezah- len. Ich werde dir auch erzählen. Alles …«
    Aber sie schweigt. Sie starrt auf den Boden und schweigt. Er blickt sie von der Seite an und denkt: sie sieht doch wie eine Dirne aus. Die Lust sitzt in jeder Faser die- ses hübschen Gesichtes, und sie ist keine unschuldige Schäferin, eine sehr verworfene Schäferin. Es ist wahnsin- nig schmerzlich zu sehen, daß sie doch eine Hure ist. Der Traum war sehr schön. Sie könnte irgendwo im Gare Montparnasse stehen. Und es ist gut, daß der Schmerz wieder da ist. Eine Zeitlang war er ganz weg. Es war schön, ihre sanfte Stimme zu hören, die vom Konservato- rium erzählte …
    »Es ist langweilig«, sagt sie plötzlich. Sie sagt das sehr gleichgültig.
    »Wir wollen Wein trinken«, sagt Andreas.
    Sie steht auf, geht geschäftsmäßig zum Schrank und fragt gleichgültig: »Was möchtest du trinken?« Sie blickt in den Schrank und zählt auf: »Da ist roter und weißer, Moselwein, glaub ich.«
    »Gut«, sagt er, »trinken wir Mosel.«
    Sie bringt die Flasche, schiebt einen kleinen Tisch heran, reicht ihm den Korkenzieher und setzt Gläser auf, wäh- rend er die Flasche öffnet. Er blickt sie dabei an, dann gießt er ein, sie

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