Der Zug War Pünktlich
gleich gewußt, daß es das ist. Halt«, ruft er, sie ist zur Tür gesprungen und blickt ihn mit entsetzten Augen an. »Du mußt bei mir bleiben«, sagt er, »du mußt bei mir bleiben. Ich bin ein Mensch, und ich kann es nicht allein ertragen. Bleib bei mir, Olina. Ich bin nicht verrückt. Schrei nicht.« Er hält ihr den Mund zu. »Mein Gott, was kann ich tun, um dir zu beweisen, daß ich nicht verrückt bin? Was kann ich tun? Sag mir, was ich tun kann, um dir zu beweisen, daß ich nicht verrückt bin?« Aber sie hört vor Angst gar nicht, was er sagt. Sie blickt ihn nur an mit ihren erschreckten Augen, und er begreift plötzlich, welch einen entsetzlichen Beruf sie hat. Wenn er wirklich verrückt wäre, dann stände sie jetzt da und wäre machtlos. Sie wird in ein Zimmer ge- schickt, und es werden zweihundertfünfzig Mark für sie bezahlt, weil sie die »Opernsängerin« ist, eine sehr kostba- re, kleine Puppe, und sie muß in das Zimmer gehen wie ein Soldat an die Front. Sie muß, auch wenn sie die
Opernsängerin ist, eine sehr kostbare, kleine Puppe. Ein schreckliches Leben. Sie wird in ein Zimmer geschickt und weiß nicht, wer drin ist. Ein Alter, ein Junger, ein Häßlicher oder ein Hübscher, ein Schwein oder ein Un- schuldiger. Sie weiß es nicht und geht in das Zimmer, und nun steht sie da und hat Angst, nur Angst, und sie hört vor Angst nicht, was er sagt. Es ist wirklich eine Sünde, in ein Bordell zu gehen, denkt er. Da werden sie einfach in ein Zimmer geschickt … Er streichelt leise diese Hand, an der er sie festgehalten hat, und es ist seltsam, daß die Angst in ihren Augen nun geringer wird. Er streichelt weiter, und es ist ihm, als streichle er ein Kind. Keine Frau habe ich so wenig begehrt wie diese. Ein Kind … und er sieht plötz- lich dieses arme, kleine, schmutzige und verschmierte Mädchen in der Vorstadt von Berlin, das zwischen Barak- ken spielt, wo kümmerliche Gärten sind, und sie haben ihm seine Puppe in eine Pfütze geworfen, die anderen … und sind weggelaufen. Und er bückt sich und zieht die Puppe aus der Pfütze, sie trieft von schmutzigem Wasser, eine schlaksige, ausgeleierte, billige Stoffpuppe, und er muß das Kind lange streicheln und es darüber trösten, daß die arme Puppe nun naß geworden ist … ein Kind …
»Gut«, fragt er, »nicht wahr?« Sie nickt, und es stehen Tränen in ihren Augen. Er führt sie sanft zu dem Sessel zurück. Der Dämmer ist schwer und traurig geworden.
Sie setzt sich gehorsam, ihn immer noch etwas ängstlich im Auge behaltend. Er schenkt ihr ein. Sie trinkt. Dann seufzt sie schwer auf. »Mein Gott, hast du mich er- schreckt«, sagt sie und trinkt mit einem durstigen Zug das Glas leer.
»Olina«, sagt er, »du bist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Denk doch mal, ob du fünfundzwanzig sein wirst, ver-
stehst du?« sagt er eindringlich. »Stell dir vor: ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Das ist Februar neunzehnhun- dertfünfundvierzig, Olina. Versuch es, denk in dich hin- ein.« Sie schließt die Augen, und er sieht an ihren Lippen, daß sie leise vor sich hinsagt, auf polnisch etwas, was hei- ßen muß: Februar neunzehnhundertfünfundvierzig.
»Nein«, sagt sie, wie erwachend, und schüttelt den Kopf,
»da ist nichts, als ob es das nicht gäbe – komisch.«
»Siehst du«, sagt er, »und wenn ich denke: Sonntag mit- tag, morgen mittag, das gibt es für mich nicht mehr. So ist es. Ich bin nicht verrückt.« Er sieht, wie sie wieder die Augen schließt und etwas leise vor sich hinspricht …
»Seltsam«, sagt sie leise. »Auch Februar neunzehnhun- dertundvierundvierzig gibt es nicht mehr …«
»Ach«, sagt sie plötzlich, »warum willst du nicht lieben? Warum willst du nicht mit mir tanzen?« Sie springt zum Klavier und setzt sich hin. Und dann spielt sie: »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel
der Liebe …«
Andreas lächelt. »Spiel doch die Beethoven-Sonate … spiel ein …«
Aber sie spielt noch einmal: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Sie spielt das sehr leise, so leise, wie der Dämmer jetzt durch den offenen Vorhang ins Zimmer sinkt. Sie spielt diesen sentimentalen Schlager ohne Sentimentalität, das ist selt- sam. Die Töne wirken hart, fast punktiert, sehr leise, fast so, als mache sie unversehens aus diesem Bordellklavier ein Cembalo. – Cembalo, denkt Andreas, das ist das rich- tige Instrument für sie, sie muß Cembalo spielen …
Es ist nicht mehr
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