Der Zug War Pünktlich
geschlossenen Kragen seiner Feldbluse gesammelt und fast gestaut; sie öffnet den Haken und trocknet mit einem Tuch seinen Hals. Sie trocknet die Wangen und die Au- genhöhlen, und er ist froh, daß sie nichts sagt …
Eine seltsam nüchterne Heiterkeit erfüllt ihn. Das Mäd- chen knipst Licht an, schließt das Fenster mit abgewende- tem Gesicht, und es ist möglich, daß auch sie geweint hat. Diese keusche Freude habe ich noch nie gekannt, denkt er, während sie zum Schrank geht. Immer habe ich nur be- gehrt, ich habe einen unbekannten Leib begehrt, und diese Seele habe ich begehrt, aber hier begehre ich nichts … Es ist seltsam, daß ich das in einem Lemberger Bordell lernen muß, am letzten Abend meines Lebens, an der Schwelle der letzten Nacht meines irdischen Lebens, das in Stryj morgen früh beendet wird mit einem blutigen Strich …
»Leg dich«, sagt Olina. Sie deutet auf das kleine Sofa, und er sieht jetzt, daß sie einen elektrischen Kocher ange-
schaltet hat in diesem geheimnisvollen Schrank.
»Ich werde Kaffee kochen«, sagt sie, »und währenddes- sen werde ich dir erzählen …«
Er legt sich, und sie sitzt neben ihm. Sie rauchen, und der Aschenbecher steht bequem auf einem Hocker, so daß beide ihn erreichen können. Er braucht nur ganz leicht die Hand auszustrecken.
»Ich brauche dir nicht zu sagen«, beginnt sie leise, »daß du nichts davon irgend jemand erzählen darfst. Selbst wenn du … wenn du nicht sterben würdest – niemals wür- dest du dieses Geheimnis preisgeben. Ich weiß es. Ich ha- be schwören müssen bei Gott und allen Heiligen und bei unserem polnischen Vaterland, niemand etwas zu sagen, aber wenn ich es dir sage, so ist es, als ob ich es mir selber sage, und ich kann dir nichts verschweigen, wie ich mir nichts verschweigen kann!« Sie steht auf und gießt das brodelnde Wasser sehr langsam und liebevoll in eine klei- ne Kanne. Zwischendurch lächelt sie ihm zu, wenn sie kleine Pausen macht, ehe sie schluckweise weitergießt, und er sieht jetzt, daß auch sie geweint hat. Dann füllt sie die Tassen, die neben dem Aschenbecher stehen.
»Der Krieg kam neunzehnhundertneununddreißig. In Warschau wurden meine Eltern unter den Trümmern unse- res großen Hauses begraben, und ich stand allein da im Garten des Konservatoriums, wo ich poussiert hatte, und der Direktor wurde verschleppt, weil er Jude war. Und ich, ich hatte einfach keine Lust mehr, Klavier zu lernen. Die Deutschen hatten uns alle irgendwie vergewaltigt, alle, uns alle.« Sie trinkt Kaffee, auch er nimmt einen Schluck. Sie lächelt ihn an.
»Es ist seltsam, daß du ein Deutscher bist und daß ich dich nicht hasse.« Sie schweigt wieder lächelnd, und er
denkt, es ist merkwürdig, wie schnell sie besiegt ist. Als sie zum Klavier ging, wollte sie mich verführen, und als sie das erste Mal spielte: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe, das war noch sehr unklar. Während sie spielte, hat sie geweint …
»Ganz Polen«, fährt sie fort, »ist eine Widerstandsbewe- gung. Ihr ahnt ja nichts. Niemand ahnt den vollen Umfang. Es gibt kaum einen unpatriotischen Polen. Wenn einer von euch irgendwo in Warschau oder Krakau seine Pistole verkauft, so müßte er wissen, daß er damit so viel Leben seiner Kameraden verkauft, als die Pistole Munition hat. Wenn irgendwo, irgendwo«, sagt sie leidenschaftlich, »ein General oder ein Oberschütze bei einem Mädchen schläft, und er erzählt ihr nur, daß sie bei Kiew oder Lubkowitz, oder was weiß ich, keine Verpflegung gekriegt haben, oder daß sie nur drei Kilometer zurückgegangen sind, dann ahnt er nicht, daß das registriert wird und daß das Herz des Mädchens mehr frohlockt als über die zwanzig oder zweihundertfünfzig Zloty, die sie für ihre scheinbare Hingabe bekommen hat. Es ist so leicht, bei euch Spionin zu sein, daß mich das schnell anekelte. Man braucht nur zuzupacken. Ich verstehe das nicht.«
Sie schüttelte den Kopf und blickt ihn fast verächtlich an.
»Ich verstehe das nicht. Ihr seid das geschwätzigste Volk der Welt und sentimental bis in die Zehenspitzen. Bei welcher Armee bist du?«
Er nennt ihr die Zahl.
»Nein«, sagt sie, »er war von einer anderen Armee. Ein General, der mich manchmal hier besuchte. Er redete wie ein sentimentaler Pennäler, der ein bißchen viel getrunken hat. ›Meine Jungens‹, stöhnte er, ›meine armen Jungens!‹
Und ein wenig später quasselte er mir vor Geilheit allerlei daher, was
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