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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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dieser Schlager, den sie spielt, und doch ist es nur dieser Schlager. Wie schön ist dieser
    Schlager, denkt Andreas. Unheimlich, was sie aus diesem Schlager macht. Vielleicht hat sie auch Komposition stu- diert, und sie macht aus diesem kleinen Schlager eine So- nate, die im Dämmer hängt. Manchmal, zwischendurch, punktiert sie die alte Melodie hinein, ganz rein und klar, ohne Sentimentalität: Ich tanze mit dir in den Himmel hin- ein, in den siebenten Himmel der Liebe. Manchmal, zwi- schen den sanften, spielerischen Wellen, läßt sie das The- ma wie eine steinerne Klippe aufsteigen.
    Es ist jetzt fast dunkel geworden, es wird kühl, aber es ist ihm alles gleichgültig; dieses Spiel ist so schön, daß er nicht aufstehen würde, um das Fenster zu schließen; selbst wenn dreißig Grad Kälte dort aus den Lemberger Gärten auf ihn zukämen, er würde nicht aufstehen … Vielleicht ist es ein Traum, daß neunzehnhundertdreiundvierzig ist und daß ich im grauen Rock der Armee Hitlers hier in ei- nem Lemberger Bordell sitze; vielleicht ist das ein Traum, vielleicht bin ich im siebzehnten Jahrhundert geboren oder im achtzehnten, und ich sitze im Salon meiner Geliebten, und sie spielt auf dem Cembalo nur für mich, alle Musik der Welt nur für mich … es ist ein Schloß irgendwo in Frankreich oder in Westdeutschland, und ich höre Cemba- lo in einem Salon des achtzehnten Jahrhunderts, gespielt von einer, die mich liebt, die nur für mich spielt, nur für mich. Die ganze Welt gehört mir in diesem Dämmer; gleich werden die Kerzen angezündet, wir werden keinen Diener rufen … keinen Diener … ich werde die Kerzen mit einem Fidibus anzünden, mit meinem Soldbuch am Kamin werde ich den Fidibus anzünden. Nein, es brennt kein Kamin, ich werde selbst den Kamin anzünden, feucht und kühl kommt es aus dem Garten, aus dem Schloßpark, ich werde an dem Kamin knien, werde das Holz liebevoll
    aufschichten, werde mein ganzes Soldbuch zerknüllen und werde anzünden mit den Streichhölzern, die sie aufge- schrieben hat. Diese Streichhölzer werden mit der Lem- berger Hypothek bezahlt. Ich werde zu ihren Füßen knien, denn sie wird mit liebevoller Ungeduld darauf warten, daß das Feuer im Kamin entzündet wird. Ihre Füße sind kalt geworden am Cembalo; lange, lange hat sie bei dieser feuchten Kühle am offenen Fenster gesessen und für mich gespielt, meine Schwester, sie hat so schön gespielt, daß ich nicht aufstehen mochte, um das Fenster zu schließen … und ich werde ein schönes helles Feuer machen, und keinen Diener werden wir brauchen, nur keinen Diener! Es ist gut, daß die Tür verschlossen ist …
    Neunzehnhundertdreiundvierzig. Schreckliches Jahr- hundert; welche scheußlichen Kleider werden die Männer tragen; sie werden den Krieg verherrlichen und schmutz- farbene Kleider im Krieg tragen, wir, wir haben den Krieg nicht verherrlicht, er war ein ehrliches Handwerk, bei dem man manchmal um seinen guten Lohn betrogen wurde; und wir haben bei diesem Handwerk bunte Kleider getra- gen, so wie ein Arzt bunte Kleider trägt und ein Bürger- meister … und eine Dirne; sie, sie werden abscheuliche Kleider tragen und werden den Krieg verherrlichen und ihn für ihre Vaterländer schlagen: scheußliches Jahrhun- dert; neunzehnhundertdreiundvierzig …
    Wir haben die ganze Nacht, die ganze Nacht. Eben erst ist der Abenddämmer in den Garten gesunken, die Tür ist verschlossen und nichts kann uns stören; das ganze Schloß gehört uns; Wein und Kerzen und ein Cembalo! Achtund- einhalb Scheine ohne die Streichhölzer; Millionen in Ni- kopol! Nikopol! Nichts! … Kischinew … Nichts … Czer- nowitz? Nichts! … Kolomea? Nichts! … Stanislau?
    Nichts! Stryj … Stryj … dieser schreckliche Name, der wie ein Strich ist, ein blutiger Strich an meinem Hals! In Stryj werde ich ermordet. Jeder Tod ist ein Mord, jeder Tod im Kriege ist ein Mord, für den irgendeiner verant- wortlich ist. In Stryj!
    Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe!
    Es ist gar kein Traum, der zu Ende geht mit dem letzten Ton dieser melodischen Paraphrase, es zerreißt nur ein schwaches Gespinst, das über ihn geworfen war, und jetzt erst, am offenen Fenster, in der Kühle des Dämmers spürt er, daß er geweint hat. Er hat das nicht gewußt und nicht gefühlt, aber sein Gesicht ist naß, und die sanften, sehr kleinen Hände von Olina trocknen es, die kleinen Ströme sind über sein Gesicht gelaufen und haben sich an dem

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