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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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in ihm, spreizt seine Hände, macht ihn bleich wie den Tod und macht ihn so maßlos unglücklich. Nichts mehr ist da von alledem, was ich ihm hab schenken wollen bei meinem Spiel … bei meinem Erzählen, nichts mehr davon ist bei ihm. Alles weg, nur noch sein Schmerz ist bei ihm.
    Und wirklich, als er plötzlich mit einer wilden Wut im Gesicht auf die Tasten schlägt, da blickt er auf, und sein erster Blick gilt ihr. Er lächelt sie an, und sie hat noch nie ein so glückliches Gesicht gesehen wie dieses über dem schwarzen Rücken des Klaviers in dem matten gelben Schein der Lampe. Ach, wie ich ihn liebe, denkt sie. Wie
    glücklich er ist, er gehört mir, in diesem Zimmer bis mor- gen früh …
    Sie hat gedacht, er wird etwas ganz Verrücktes spielen, etwas Wildes von Tschaikowskij oder Liszt oder einen dieser herrlich tanzenden Chopins, weil er wie ein Wahnsinniger in die Tasten geschlagen hat.
    Nein, er spielt eine Sonatine von Beethoven. Ein zartes, kleines, sehr gefährliches Stück, und sie fürchtet einen Augenblick lang, daß er es »verschmieren« wird. Aber er spielt sehr schön, sehr vorsichtig, fast ein wenig zu vor- sichtig, als vertraue er seiner Kraft nicht. So liebevoll spielt er, und sie hat noch nie ein so glückliches Gesicht gesehen wie das Soldatengesicht da über dem spiegelnden Rücken des Klaviers. Er spielt die Sonatine etwas unsi- cher, aber rein, so rein, wie sie sie noch nie gehört hat, sehr klar und sauber.
    Sie hofft, daß er weiterspielen wird. Es ist schön; sie hat sich auf das Sofa gelegt, wo er gelegen hat, und sieht die Zigarette im Aschenbecher verqualmen: Sie möchte so gerne ziehen, aber sie wagt nicht, sich zu bewegen; die geringste Bewegung könnte diese Musik zerstören; und am schönsten ist dieses sehr glückliche Soldatengesicht über dem schwarzen, glänzenden Rücken des Klaviers …
    »Nein«, sagt er lachend, als er aufsteht, »es ist nicht mehr viel. Es hat keinen Zweck. Man muß eben gelernt haben, und ich habe nichts gelernt.« Er beugt sich über sie und trocknet ihre Tränen, und er ist froh, daß sie geweint hat. »Nein«, sagt er leise, »bleib liegen. Ich wollte dir doch auch erzählen.«
    »Ja«, flüstert sie, »erzähl mir und gib mir Wein.«
    Wie glücklich ich bin, denkt er, als er zum Schrank geht. Ich bin wahnsinnig glücklich, obwohl ich feststellen muß-
    te, daß es nichts war mit dem Klavier. Es ist kein Wunder an mir geschehen. Ich bin nicht plötzlich Pianist gewor- den. Es ist vorbei, und doch bin ich glücklich. Er blickt in den Schrank und fragt, indem er den Kopf zurückbeugt:
    »Welchen willst du?«
    »Roten«, sagt sie lächelnd, »jetzt Roten.«
    Er nimmt eine dickbauchige Flasche aus dem Schrank, dann sieht er den Zettel und den Bleistift und blickt auf das Papier. Oben steht etwas Polnisches, das sind die Streichhölzer, und da steht deutsch »Mosel« und davor ein polnisches Wort, das sicher Flasche bedeutet. Welch eine reizende Schrift sie hat, denkt er, eine hübsche weiche Schrift, und er schreibt unter Mosel »Bordeaux« und macht dort, wo sie polnisch Flasche geschrieben hat, Pünktchen. »Hast du wirklich aufgeschrieben?« fragt sie lächelnd, während er den Wein eingießt.
    »Ja.«
    »Du würdest nicht einmal eine Puffmutter betrügen.«
    »Doch«, sagt er, und er sieht plötzlich den Dresdner Hauptbahnhof und hat mit schmerzlicher Deutlichkeit den Geschmack des Dresdner Hauptbahnhofs auf der Zunge, und er sieht den dicken rotbackigen Leutnant. »Doch, ich habe einen Leutnant betrogen.« Er erzählt ihr die Ge- schichte. Sie lacht. »Aber das ist doch nicht schlimm.«
    »Doch«, sagt er, »das ist sehr schlimm. Ich hätte das nicht tun sollen, ich hätte ihm nachrufen sollen: Ich bin nicht taub. Ich habe geschwiegen, weil ich bald sterben muß und weil er mich so angebrüllt hat … weil ich voll Schmerz war. Ich war auch zu faul. Ja«, sagt er leise, »ich war wirklich zu faul, es zu tun, weil es so schön war, den Geschmack des Lebens im Mund zu haben. Ich wollte es erst klarstellen, ich weiß ganz genau, ich dachte: du darfst
    nicht zulassen, daß ein Mensch sich deinetwegen ernied- rigt fühlt, und wenn es auch ein nagelneuer Leutnant ist, sogar mit nagelneuen Orden auf der Brust. Das darfst du nicht zulassen, hab ich gedacht, und ich seh ihn noch vor mir, wie er verlegen und betroffen, knallrot davongeht mit seinem grinsenden Schwärm von Untergebenen. Ich sehe seine dicken Arme und seine armen Schultern. Wenn ich an seine

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