Der zweite Gral
gesehen. Eine halbe Ewigkeit, wie es ihm schien. Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder durch die riesigen Hallen zu schreiten und die Erhabenheit des alten Gemäuers in sich aufzunehmen.
Und seine Brüder und Schwestern zu treffen.
5.
Anarak, Iran
300 Kilometer südöstlich von Teheran
E in Unwissender hätte in dieser gottverlassenen Einöde niemals ein Gefängnis vermutet. Schon gar nicht ein so großes. Aber dieses Gefängnis war aus gutem Grund so geräumig. Und es lag auch aus gutem Grund so weit abseits der besiedelten Gegenden. Denn niemand außerhalb dieser Mauern sollte je von den Gräueltaten erfahren, die sich im Innern abspielten.
Genau das war Lara Mosehni zum Verhängnis geworden. Sie hatte das Gefängnis ausgekundschaftet, um die Missstände ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Dabei war sie selbst in die Fänge jener Extremisten geraten, auf die sie es abgesehen hatte.
Mittlerweile saß sie schon sechs Tage lang in ihrer winzigen, stickigen Zelle, zusammengepfercht mit sieben anderen Frauen. Männer gab es in dieser Anstalt auch, doch soweit Lara wusste, waren sie in einem anderen Block untergebracht.
Aus einem ihr unbekannten Grund war sie die Einzige in der Zelle, die Handschellen trug. Vermutlich ganz einfach deshalb, weil sie noch zu viel Kraft hatte. Später, wenn sie wie die anderen halb verhungert und geschwächt war, würde man ihr die Fesseln abnehmen.
Ihr rabenschwarzes, knapp schulterlanges Haar, das normalerweise glänzte und sich wie Samt anfühlte, sah strohig und matt aus. Außerdem juckte ihre Kopfhaut, doch mit den Händen auf dem Rücken konnte sie sich nicht kratzen. Lara fragte sich, wann sie sich endlich wieder waschen könne.
Sie seufzte.
Unter normalen Umständen war sie eine sehr hübsche junge Frau, 28 Jahre alt, mit dem typisch arabischen Olivton der Haut. Ihre hohen Wangenknochen, das spitz zulaufende Kinn und die ebenmäßigen Gesichtszüge verliehen ihr etwas Pharaonenhaftes. Ihr Mann hatte sie einmal als seine kleine Nofretete bezeichnet, wohl auch deshalb, weil sie gelegentlich ein wenig überheblich wirkte.
Doch in den letzten Tagen hatte ihr Antlitz jegliche Überheblichkeit verloren, davon war sie überzeugt.
Das Gefängnis lag ein gutes Stück außerhalb von Anarak, eingebettet in die kargen Hügel des Kuhrud-Gebirges. Durch das kleine, vergitterte Fenster hatte Lara Mosehni eine schier endlos weite Aussicht auf die Ebene der riesigen Salzwüste Desht-i-Kevir.
Genau so könnte das Ende der Welt aussehen, dachte sie niedergeschlagen.
Mit dem Rücken an der Wand ließ sie sich zu Boden sinken. Um es bequemer zu haben, brachte sie ihre Beine in den Schneidersitz. Die anderen Frauen saßen ebenfalls auf dem nackten, feuchtkalten Boden. So etwas wie eine Pritsche gab es hier nicht. Nur ein stinkendes Loch in der Ecke, um die Notdurft zu verrichten. Jedes Mal, wenn Lara diese Ecke aufsuchte, musste sie sich wegen der Fesseln von einer der anderen Frauen helfen lassen. Es war entwürdigend.
Hinter den dreckverschmierten Gesichtern ihrer Zellengenossinnen erkannte Lara Mosehni den Ausdruck von Angst und Schrecken. Sie alle waren schon von den Wärtern vergewaltigt worden, die meisten von ihnen mehrmals. Jeder Versuch, Widerstand zu leisten, wurde mit brutalen Schlägen und Tritten geahndet. Und vergewaltigt wurden die Frauen trotzdem.
In der Nacht hatten die Wärter ein junges Mädchen geholt, Lara schätzte sie auf höchstens fünfzehn. Es hieß, sie solle zum Verhör mitkommen. Jetzt war ihr Gesicht verquollen und ihrKörper von blutigen Striemen und blauen Flecken übersät. Außerdem presste sie ihre Hände gegen den Unterleib.
Laras Blick wanderte weiter zu einer Frau, die bereits seit über vier Jahren in dieser Zelle saß. Wie bei den meisten anderen Insassen des Gefängnisses von Anarak, warf man auch ihr vor, gegen die Regeln des Islam und die Gesetze des Regimes verstoßen zu haben. Angeblich hatten sie und ihr Mann einen Bombenanschlag auf ein Regierungsmitglied in Teheran geplant. Die Frau hatte Lara indes versichert, gar nichts von einem Bombenanschlag zu wissen. Zu einem Gerichtsverfahren war es nie gekommen. Man ließ sie einfach hier schmoren. Lebendig begraben.
Um ein Geständnis zu erzwingen und die Namen ihrer vermeintlichen Helfershelfer aus ihr herauszupressen, war auch diese Frau vergewaltigt worden. Und nicht nur das – man hatte sie auch mit Rohrstöcken, später mit Klaviersaiten gezüchtigt. Als die unwissende Frau
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