Der zweite Kuss des Judas.
lauten Rufens keine Spur von Patò fand.
Nach dieser Feststellung begab er sich in den Lagerraum, der als Garderobe für die Herren Schauspieler bestimmt war. An dem Platz, an dem sich Patò umkleidete, also das Kostüm an- und ausziehen konnte, fand er weder seinen Freund noch irgendetwas von seinen Sachen wie Zivilkleidung, Schuhe usw.
Auch das Kostüm fehlte, das er vereinbarungsgemäß an seinem Platz hätte liegen lassen müssen. Als er zu der Überzeugung gekommen war, dass Antonio Patò aus ganz persönlichen Gründen beschlossen hatte, sich nicht vor dem Publikum zu verbeugen und nach Hause zu gehen, war er beruhigt. Er dachte auch, Patò habe das Kostüm mit nach Hause genommen, weil es bei dem Sturz vielleicht zerrissen war und geflickt werden musste. Auch Lagùmina stimmte dieser möglichen Erklärung der Angelegenheit zu.
Da nun zwischen dem Sturz des Judas und dem Ende der Aufführung etwa zwanzig Minuten liegen, zu denen noch der mehrmalige lang anhaltende Applaus hinzukommt, hätte Patò, auch wenn er verletzt war, jede nur denkbare Gelegenheit gehabt, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken und Hilfe zu erhalten. Was jedoch nicht geschah.
Daraus ist zu schließen, dass Patò in dem Zeitraum verschwand oder zum Verschwinden gezwungen wurde, der zwischen dem Sturz in die Unterbühne und dem Auftritt der Schauspieler zur Entgegennahme des Applauses liegt. Höchstens fünfundzwanzig Minuten. Morgen Früh werde ich, obwohl Ostersonntag ist, alle Komparsen, die am Passionsspiel teilgenommen haben, in kleinen Gruppen ins Kommissariat bestellen.
Der Polizeikommissar (Ernesto Bellavia)
L'Araldo di Montelusa
Redakteur: Pasquale Mangiaforte Sonntag, 23. März 1890
WO IST ANTONIO PATÒ?
In Vigàta geht das von der örtlichen Obrigkeit weder bestätigte noch dementierte Gerücht um, Antonio Patò sei seit Freitagabend, nachdem er eine denkwürdige Darstellung des Judas im Passionsspiel geboten hatte, nicht nach Hause zurückgekehrt. Sein Schwager Arnoldo Mangiafico, Hauptmann im Königlichen Heere, der in Caltanissetta stationiert, aber sogleich nach Vigàta geeilt ist, um sich an der Suche zu beteiligen, erklärte gegenüber unserer Zeitung, er sei überzeugt, dass sein Schwager, als er, wie es die Rolle verlangt, durch eine Bodenluke in die Unterbühne stürzte, sich den Kopf angeschlagen, dadurch einen vorübergehenden Gedächtnisverlust erlitten habe und nun umherirre und den Heimweg nicht mehr finde. Der Familie von Antonio Patò sprechen wir an diesem Ostersonntag, der für alle Menschen ein froher Tag sein sollte, unsere Wünsche für eine rasche und glückliche Lösung des Falles aus.
MURÌ PATÒ
O
S'AMMUCCIO?
(»Ist Patò tot oder hat er sich versteckt?«, stand am Morgen des 23. März 1890, Ostersonntag, auf einer Hauswand in Vigàta.)
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den Signor Questore Polizeipräsidium Montelusa
Vigàta, den 23. März 1890
Tgb.-Nr.212
Betreff: Ermittlungen im Fall des vermissten Patò
Heute Morgen hatte es gerade sieben Uhr geschlagen, als ich in die Wohnung der Familie Patò gerufen wurde, wo Signora Mangiafico Elisabetta verheiratete Patò ihren Ehegatten dann als vermisst meldete.
»Da ich überzeugt bin«, fügte sie hinzu, »dass mein Mann einem vorübergehenden Gedächtnisverlust zum Opfer gefallen ist, können jetzt Nachforschungen in größerem Umfang angestellt werden.«
Anscheinend hatte sie schon eine Unterredung mit ihrem Bruder, Hauptmann Arnoldo, gehabt und war sich mit ihm einig: Dieser hat nämlich gegenüber dem Tagblatt »L'Araldo di Montelusa« erklärt, seiner Meinung nach sei das Verschwinden des Schwagers einem Zustand der Vergesslichkeit infolge einer Verletzung zuzuschreiben, die er sich beim Sturz in die Unterbühne durch die Bodenluke zugezogen haben müsse. Als ich um acht Uhr wieder im Kommissariat war, begann ich mit der Befragung der Personen, die als Komparsen an der Aufführung des Passionsspiels mitgewirkt haben, um zu erfahren, ob sie während der Vorstellung möglicherweise irgendetwas Merkwürdiges bemerkt hatten.
Und da ereignete sich ein zum Mindesten seltsamer Vorfall, den zu melden ich mir erlaube, obgleich er mit dem Verschwinden von Antonio Patò in keinerlei Verbindung steht.
Der Erste auf der Liste hieß Abbate Giovanni, 25 Jahre alt, ein unbescholtener Bauer, der nach Angabe seiner Personalien deutliche Zeichen von Verstörung und Nervosität zeigte.
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