Der zweite Kuss des Judas.
Oberwachtmeister Mandracchia, der das Protokoll aufnahm, und ich verständigten uns mit einem Blick. Ich wies Abbate an, sich zu setzen, und stellte ihm die erste Frage:
»Was hast du während des Passionsspiels gemacht? Wenn du redest und alles sagst, passiert dir vielleicht nichts.« Bei meinen Worten fiel Abbate auf die Knie, schlug sich wie besessen mit der Faust auf die Brust und schrie schluchzend:
»I' fu! I' fu! A testa persi! I' fu! Mannatimi a lu carzaru, sbinturatu ca sugnu!«
(»Ich war's! Ich war's! Ich hab den Kopf verloren! Ich war's! Steckt mich Unglücklichen ins Gefängnis!«) Oberwachtmeister Mandracchia sprang augenblicklich auf und hielt die Person fest.
Auf meine Frage: »Warum hast du es getan?«, antwortete Abbate wortwörtlich so, wie ich Ihnen berichte, wobei ich mich für die rohen Worte entschuldigen möchte:
»Nun ci la fici a tinirimi davanti a un culu comu a chiddru!« (»Ich konnte mich nicht beherrschen bei so einem Arsch.«) »›U culu di cu?‹ (Bei wessen Arsch?)«, fragte Oberwachtmeister Mandracchia mit erregter Stimme, denn er fürchtete ebenso wie ich, dass der Mord an Filialdirektor Patò infolge der Entfesselung schändlichster und bestialischster Instinkte geschehen war.
»U culu di Margherita« (die Übersetzung erübrigt sich), antwortete, in einem fort seine Reue bekundend, Giovanni Abbate.
Kurzum, anscheinend haben sich Abbate und diese Margherita Fantauzzo während der Aufführung des Passionsspiels von der Bühne entfernt, sind auf der Haupttreppe, die vom Innenhof in den Palazzo Curtò di Baucina führt, in den ersten Stock gelaufen und haben sich schließlich in die Kapelle der Herrschaft zurückgezogen. Hier wurden sie, während sie sich in fleischlichem Umgang befanden, von einer alten Dame überrascht (fast sicher Prinzessin Imelda Sanjust degli Orticelli), der auf diesen zweifellos gotteslästerlichen Anblick hin die Sinne schwanden. Das nutzten Abbate und die Fantauzzo aus, brachten unverzüglich ihre Kleider in Ordnung und mischten sich wieder unter die Komparsen.
Diese Episode erklärt ausreichend das Verhalten von Marchese Simone Curtò di Baucina mir gegenüber, als ich dem Zimmermann befahl, den Abbau der Bühne aufzuschieben. Sind Abbate und die Fantauzzo rechtlich zu belangen? In dankbarer Erwartung einer Klärung,
Der Polizeikommissar (Ernesto Bellavia)
BANCA DI TRINACRIA
PROVINZIALDIREKTION MONTELUSA
DER DIREKTOR
An Signor Vitantonio Tortrici
Hauptkassierer Banca di Trinacria Vigàta Montelusa, den 23. März 1890
Der Überbringer dieses Schreibens, Commendatore Marcello Cannarella, Generalinspekteur unserer Bank und Ihnen gut bekannt, ist von der Generaldirektion Palermo beauftragt, zur Feststellung eventueller Unregelmäßigkeiten nach dem Verschwinden von Antonio Patò die Filiale in Vigàta zu überprüfen.
Seien Sie daher so freundlich, sich oben genanntem Generalinspekteur Cannarella restlos und uneingeschränkt zur Verfügung zu halten. Grüße.
Der stellvertretende Provinzialdirektor (Costantino Grifeo)
STATION DER KÖNIGLICHEN CARABINIERI VIGÀTA
An Signor Capitano Arturo Carlo Bosisio
Kommando der Königlichen Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 23. März 1890
Betreff:
Tgb.-Nr. (nicht eingetragen)
Signor Capitano, ich mache auf Folgendes aufmerksam. Am heutigen Ostersonntag blieb die Menge der Gläubigen, anstatt sich auf der Promenade zu zerstreuen oder sich ins Caffè Amendola zu begeben, um cassate und cannoli zu kaufen, nach der Mittagsmesse lange in der Nähe der Bühne stehen, und nach und nach schlossen sich ihr zahlreiche weitere Neugierige an.
Gegenstand der lebhaften Gespräche war natürlich das Verschwinden von Antonio Patò und der Ort des Geschehens. Plötzlich ging am Palazzo Curtò di Baucina die Tür des Repräsentationszwecken dienenden Balkons unter gewaltigem Lärm auf (vielleicht weil er seit der Ausrufung des Königreiches Italien nicht mehr geöffnet worden war), und Prinzessin Imelda Sanjust degli Orticelli, geborene Piovasco di Rondo zeigte sich der Menge und hob mit trotz ihres hohen Alters kräftiger Stimme zu einer Rede an, in der sie etwa Folgendes sagte:
»Bürger von Vigàta! Ihr habt ein schändliches Sakrileg begangen, und das wird Gott euch büßen lassen! Im Feuer der Hölle werdet ihr für eure Sünde schmoren! Ihr werdet enden wie Sodom und Gomorra!«
Und so weiter mit Schimpf und Verwünschungen aller Art gegen die Bürger von
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