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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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fattu capitatu
Mentr'era lu Martoriu ricitatu
Ni la chiazza cchiù granni di Vigàta.
Davanti a 'na gran fuddra stirminata

    Stava Gisù 'nchiuvatu nni la Cruci
E Giuda, 'u tradituri,facìa vuci
Di sprufunnari 'nfunnu di lu 'mfernu
E di patiri nni lu focu eternu.

    La terra a li so' pedi si rapri
E Giuda tuttu 'nzemmula spiri.
Bravu l'atturi ca Giuda impirsonò
E a gran vuci la genti lu chiamò.
    Ma I'atturi (di nomu fa Patò)
Supra lu parcu nun si prisintò.
Chiama ca chiama, cerca ca ti cerca,
Misiru suttasupra Arca e Amerca,

    Di chistu tali, Antoniu Patò,
Mancu l'ùmmira cchiù si truvò.
»Fu Diu sdignatu ca lu vosi puniri«,
Cifu quarcunu ca si misi a diri.

    »L'omu nun è acqua ca sbapùra«,
Cifici 'n'antru, »si si cerca ancura,
La crozza armenu s'havi a truvari
Macari dintra a 'n puzzu d'acqui amari.«

    So lautet die Übersetzung: Hört, was geschehen, als das »Martorio« (notabene: Der Bänkelsänger nennt es nicht Mortorio, Passionsspiel, sondern Martorio, Martyrium, weil es im Volksmund so heißt) auf dem größten Platz Vigàtas vor einer riesigen Menschenmenge aufgeführt wurde. Jesus war ans Kreuz genagelt, und Judas, der Verräter, schrie, er wolle in die tiefste Hölle hinabstürzen und im ewigen Feuer schmoren. Der Boden zu seinen Füßen tat sich auf, und Judas verschwand augenblicklich. Hervorragend der Schauspieler, der Judas verkörperte, und die Leute riefen laut nach ihm. Aber der Schauspieler namens Patò trat nicht auf die Bühne. Man rief nach ihm, man suchte nach ihm, man stellte l'Arca e l'Amerca auf den Kopf (notabene: der volkssprachliche Ausdruck bedeutet »jedes Ding«), doch von dem Mann, Antonio Patò, war keine Spur zu finden. »Der Zorn Gottes hat ihn bestrafen wollen«, behauptete da jemand. »Der Mensch ist nicht Wasser, das verdampft«, sagte ein anderer. »Wenn wir weiter suchen, finden wir am Ende wenigstens seinen Schädel, und sei es in einem Brunnen mit bitterem Wasser.« Zur Verdeutlichung des großen Interesses und der Anteilnahme, die dieser Fall nicht nur bei den tüchtigen Bürgern von Vigàta geweckt hat, hat ein anderer Leser folgende anonyme Zeilen, die auf einer Hausmauer in Vigàta erschienen sind, für uns abgeschrieben.

    Giuda murì
Patò spirì
Spirì Patò
Cu í'ammazzò?
Quantu patì?
E po': pirchì
Patò spirò?

    Judas tot

    Patò gestürzt
    Wer hat dem Patò das Leben verkürzt?

    Welch bitteres Los!
    Verschwunden? Ermordet?
    Warum denn bloß?

    In diesen plumpen und kindlichen Zeilen steckt die Frage, die sich alle Bürger in Vigàta stellen. Es bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig, denn anscheinend haben Zwistigkeiten zwischen den Königlichen Carabinieri und dem Polizeikommissariat die Ermittlungen, die sowieso nur schleppend vorangingen, vollkommen gelähmt.
    KÖNIGLICHE PRAFEKTUR MONTELUSA
    DER PRÄFEKT
    An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante der Kgl. Carabinieri Montelusa
s treng vertraulich
Montelusa, den 26. März 1890

      Signor Questore, Signor Capitano, ich beehre mich, Ihnen in Abschrift einen streng vertraulichen Brief zu senden und Ihnen mitzuteilen, dass ich am heutigen Datum ein Schreiben von S. Exz. Grande Ufficiale Senator Artidoro Pecoraro, Unterstaatssekretär im Ministerium des Innern, erhalten habe, in dem er seine mehr als berechtigte Angst wegen des Verschwindens seines teuren Neffen Antonio Patò zum Ausdruck bringt und mich auffordert, Nachforschungen zu betreiben, die - so die Worte Seiner Exzellenz - »unter dem doppelten Zeichen der Eile und der Umsicht« stattfinden mögen. Da mir nun Gerüchte, die hoffentlich auch solche bleiben werden, über Zwistigkeiten zwischen Ihnen beiden zu Ohren gekommen sind, ersuche ich Sie, allen Streit beizulegen, um zu einer raschen Aufklärung des rätselhaften Verschwindens zu gelangen.
    Ich kann nur auf Eintracht und Harmonie hoffen, auf emsige Zusammenarbeit und brüderliches Einvernehmen, denn all dies bürgt für fruchtbare Resultate. In jedem Falle fühle ich mich, sollten die Nachforschungen unglücklicherweise kein Ergebnis erbringen, Sie darauf hinzuweisen bemüßigt, dass gewiss nicht ich derjenige sein werde, der nach Befehl und Willen S. Exz., des Senators Pecoraro, das Büßergewand überziehen wird. Mit den besten Wünschen für eine gute und geschickte Arbeit bitte ich Sie, die Güte zu haben und mich ständig auf dem Laufenden zu halten.
    Der Präfekt von Montelusa (Francesco Tirirò)

    PROVINZIALKOMMANDO

    DER

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