Der zweite Kuss des Judas.
haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass der in der ganzen Stadt beliebte Filialdirektor wohlbehalten gefunden wird, dank des unermüdlichen Einsatzes von Carabinieri und Polizei, die in harmonischem Zusammenklange wirken, obgleich der anonyme Schreiberling den Ermittlern sogar offene Zwistigkeiten unterstellt. Jedem steht es völlig frei, zu denken, was er will, aber wenn wir nicht zögern, diesen Artikel als niederträchtig zu bezeichnen, so liegt das an seinem ausdrücklich sarkastischen und verächtlichen Unterton.
Das ist unerträglich, denn jedermann kennt die makellose
Rechtschaffenheit, die gottesfürchtige Gesinnung und das untadelige Benehmen von Antonio Patò, sei es als Mensch, sei es als Direktor der Filiale der Banca di Trinacria von Vigàta.
Wann wird in diesem schamlosen Blatt die groteske Meldung erscheinen, Patò sei mit der Kasse der Bank geflohen? Am morgigen Freitag wird es eine Woche her sein, dass Antonio Patò verschwunden ist. Von Herzen wünschen wir der Familie und dem Unterstaatssekretär im Ministerium des Innern, Grande Ufficiale Senator Artidoro Pecoraro, dessen innigst geliebter Neffe Patò ist, dass sich alles zum Guten wenden möge. (G.P.)
KÖNIGLICHES POLIZEIPRÄSIDIUM MONTELUSA
DER POLIZEIPRÄSIDENT
An
Commissario Ernesto Bellavia Polizeikommissariat Vigàta
Eilt! Persönlich!
NICHT INS TGB. EINTRAGEN
Montelusa, den 27. März 1890
Gestern bekam ich ganz zufällig Ihr Gesuch um Ermächtigung zur Verwarnung eines gewissen Gerlando Ciaramiddaro in die Hand, den als »gewalttätig und rücksichtslos« zu bezeichnen Sie nicht zögerten.
Ja und? Wenn wir alle gewalttätigen und rücksichtslosen Personen verwarnen würden, die sich allein in unserer Provinz befinden, müssten wir beim Ministerium mindestens doppelt so viel Papier anfordern, als es uns halbjährlich schickt.
Vergessen Sie dieses Vorhaben. Aber setzen Sie ihn bei der ersten richtigen Verfehlung hinter Schloss und Riegel. Leute wie Ciaramiddaro verdienen keine höfliche Vorankündigung, als welche eine Verwarnung gewissermaßen gelten kann. Doch ich schreibe Ihnen aus einem anderen Grunde.
Ihrem Ermächtigungsgesuch vom 20. des Monats entnehme ich mit einer gewissen Verwunderung, dass Ciaramiddaro, just einen Tag bevor Patò verschwand, mit diesem so heftig gestritten hatte, dass man Sie einzuschreiten bat. Sie fügen hinzu, dass Ciaramiddaro wiederholt Todesdrohungen gegen den Filialdirektor ausgestoßen hat, dessen Übeltat nur darin besteht, von Ciaramiddaro die Rückzahlung eines Darlehens gefordert zu haben, das ihm die Filiale der Banca di Trinacria in Vigàta gewährt hatte. Daher begreife ich Ihre Saumseligkeit nicht und frage Sie: Warum wurde Ciaramiddaro wegen des Verschwindens von Patò nicht verhört?
Bedenken Sie, dass wir es nicht mit einem beliebigen Fall zu tun haben: Wir alle, Sie eingeschlossen, wissen, welche verwandtschaftlichen Beziehungen der Vermisste genießt. Außerdem sage ich Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit: Wenn all das der Maresciallo der Königlichen Carabinieri, der mit Ihnen zusammenarbeitet, erfährt und diese Ihre unerklärliche Schlamperei seinem Vorgesetzten meldet, der bekanntlich Scheuklappen hat wie ein nervöses Pferd, was wäre das für eine Blamage für uns! Ich wiederhole es noch einmal: Patòs Verschwinden darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Gestatten Sie mir einen Rat: Nehmen Sie Ciaramiddaro auf der Stelle fest.
Wenigstens hätten wir damit bei Senator Pecoraro einen Stein im Brett.
Der Polizeipräsident von Montelusa (Liborio Bonafede)
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante d er Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 27. März 1890
Tgb.-Nr.215
Betreff: Ermittlungen im Fall des vermissten Patò
In der Anlage übersenden wir das Protokoll des Verhörs von Ciaramiddaro Gerlando, das heute um sechs Uhr nachmittags im Kommissariat aufgenommen wurde. Ebenfalls in der Anlage übersenden wir eine schriftliche Vorladung, die Patò in seiner Eigenschaft als Direktor der Filiale der Banca di Trinacria Ciaramiddaro geschickt hat. Wir teilen Ihnen auch unsere Überlegungen zu dem erfolgten Verhör mit.
Zu Ciaramiddaros Vorladung hatten wir uns aus folgenden Gründen entschlossen:
Ciaramiddaro hatte wegen Bankangelegenheiten Todesdrohungen gegen Patò ausgesprochen; der Fund des anonymen Briefes, der Ciaramiddaro als Verfasser desselben
Weitere Kostenlose Bücher