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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Auffassung für in höchstem Maße irrig: Wegen der dem Menschen eigenen wetteifernden Natur würden die Ergebnisse niemals koinzidieren, sondern miteinander kollidieren.
    Der Polizeipräsident von Montelusa (Liborio Bonafede)

    PROVINZIALKOMMANDO

    DER KÖNIGLICHEN CARABINIERI MONTELUSA
    DER HAUPTMANN UND KOMMANDANT
    An
    Signor Questore Liborio Bonafede
Polizeipräsidium Montelusa
Montelusa, den 25. März 1890

    Signore!
      Ich antworte unverzüglich, um gegen Ihren Brief zu protestieren, den ich für äußerst beleidigend halte. Ich finde Ihren Affront verletzend.
    Sie können sich keineswegs erlauben, mich daran zu erinnern, welches die bewährte Praxis ist. Wenn ich es für besser hielt, nämliche Praxis nicht zu befolgen, so bedeutet dies, dass ich meine Gründe dafür hatte. Was Ihre persönliche Philosophie anbelangt, nämlich dass eine mögliche Zusammenarbeit zwischen den Carabinieri und der Polizei um der menschlichen Natur willen unvermeidlich auf eine Kollision hinauslaufen müsse, mache ich Sie entschieden darauf aufmerksam, dass eine solche Natur den Soldaten des Korps der Carabinieri nicht eigen ist; sie pflegen nicht nur jedes Hindernis zum Steigbügel zu nehmen, sondern wissen auch in jedem Augenblick und allerorten, welches der vorbildliche Pfad der Ehre, der Loyalität, des Opfers ist.
    Ich grüße Sie nicht, Signore.
      Ich teile Ihnen nur mit, dass ich Ihnen weiterhin zu Diensten stehe.
       Der Hauptmann und Kommandant der Königlichen Carabinieri (Arturo Carlo Bosisio)

    KÖNIGLICHES MINISTERIUM DES INNERN

    DER UNTERSTAATSSEKRETÄR
    Seiner Exzellenz
    Gran. Uff Francesco Tirirò Präfekt von Montelusa
Eilt!
Rom, den 25. März 1890

    Hochverehrte Exzellenz, jedweder Insignien mich entblößend, wende als Bittsteller ich mich an Sie, auf dass Sie dafür Sorge tragen mögen, meine Angst zu lindern, die Angst eines alten Mannes, ob des unerwarteten und unerklärlichen Verschwindens meines inniglich geliebten Neffen Antonio Patò, der mir von all meinen Neffen am treuesten ergeben ist. Als mich neulich wie ein vom Himmel stürzender Meteor die traurige Nachricht ereilte, war ich vor Entsetzen wie gelähmt.
      Hic et nunc, verehrte Exzellenz, flehe ich Sie an, dahingehend zu wirken, dass das Dunkel, das meinen Liebling umhüllt, sich rasch auflösen möge und das Bangen, die Angst, die Furcht derer, die ihn lieben und schätzen - und ich gehöre zu ihnen -, zerstreut werden. Wohl weiß ich, dass Sie sich auf dem Wege nach oben befinden, doch ich bitte Sie, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, damit die Nachforschungen unter dem doppelten Zeichen der Eile und der Umsicht stattfinden können. Sie wissen sehr wohl, dass es in unseren Dörfern und Städten verschlagene und skrupellose Individuen gibt, Politisierer, die nichts anderes treibt als törichte Machtgier, der rücksichtslos alles zu opfern sie bereit sind; flink wie Krähen zerfleischen sie andere Menschen und weiden sich an deren Schmerz, sei es aus purer Niedertracht des Herzens, sei es um des politischen Nutzens willen. Ich bitte Sie also flehentlich, zu einem präzisen Resultat zu gelangen, das dem Eiter - üblem Gerede, Gerüchten, voreiligen Vermutungen - keinen Fluss gibt. Exzellenz, ich begebe mich in Ihre Hände.
    Der Unterstaatssekretär (Gran. Uff Senator Artidoro Pecoraro)
    Post scriptum:
      Neulich hatte ich Gelegenheit, mit Seiner Exzellenz, dem Herrn Minister, sehr wohlwollend von Ihnen zu sprechen. Ad majorem!

    La Gazzetta dell'Isola
    Herausgeber: Gesualdo Barreca
    Palermo, 25. März 1890

      ECHO AUF DAS VERSCHWINDEN VON ANTONIO PATÒ

    Wir berichteten bereits über das rätselhafte Verschwinden von
    Filialdirektor Antonio Patò; er hat beim Passionsspiel, das am Karfreitag in Vigàta aufgeführt wurde, die Rolle des Judas Ischariot gespielt, der nach dem letzten flehentlichen Ruf gen Himmel, die Erde möge ihn verschlingen, in einer eigens zu diesem Zweck eingerichteten Versenkung verschwunden und nicht wieder aufgetaucht ist.
      Natürlich gab es sofort Gerede, wilde Gerüchte und Vermutungen, und nicht alle waren von Sorge oder Wohlwollen getragen.
      Doch mittlerweile ist man fast allgemein der Überzeugung, dass der arme Patò aus Gründen, die sich den Ermittlern entziehen (die, zumindest bisher, gewiss nicht geglänzt haben), ermordet wurde.

      Ein Leser hat uns dieses Gedicht geschickt, das ein fahrender Bänkelsänger gestern in Montelusa gegen Bezahlung an Passanten verteilte:

    Ascutati stu

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