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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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des einfachen und ehrbaren Bürgers Gaetano Rizzopinna ist.
      Wohl bekannt ist in Montelusa und der dazugehörigen Provinz die Willfährigkeit einer Bank (deren Namen ich nicht nenne) gegenüber einem mächtigen Politiker aus Montelusa, der sich aus dieser Bank, von der er 51% besitzen soll, wie aus eigener Tasche bedient, denn er ist vollauf damit beschäftigt, nach links und rechts gönnerhaft Wohltaten auszuteilen, immer in der Absicht, entsprechenden Beifall in der Bevölkerung zu erheischen.
    So auffallend, so beträchtlich war die Vergeudung, die Verschwendung, dass im vergangenen Jahr der Ruf nach Schließung der Bankschalter laut wurde und die Bank daher einer sorgfältigen Prüfung seitens des Inspektorats der Banca Nazionale, die allen Banken vorsteht, unterzogen wurde.
      Man munkelt, während der Inspekteur mit seinen Gehilfen in den Bureaus der Provinzialdirektion der Bank beschäftigt war, sei der mächtige Politiker aus Rom, wo er sich in seinem Ruhme sonnt, nach Montelusa geeilt, ähnlich einem Falken, der sein Nest in Gefahr sieht. Tatsache ist, dass der Inspekteur zwei Tage darauf an einer pompösen Jagdpartie teilnahm, die der erwähnte Politiker veranstaltete und von welcher der Inspekteur mit prallem Waidsack zurückkehrte, in dem nicht nur Federwild steckte. Von oben erwähnter Prüfung ward nichts mehr gehört.
    Gaetano Rizzopinna
      Dieses Schweigen hat mich veranlasst, einer Ahnung, einer allzu schlichten Prophezeiung öffentlich Ausdruck zu geben. So legen wir den ermittelnden Behörden vorsichtig nahe, nicht nur Spuren privater Konflikte, kleiner Racheakte, familiärer Wechselfälle zu verfolgen, sondern ihr Augenmerk auch auf das Schicksal eines auf rätselhafte Weise verschwundenen Filialdirektors zu richten, vor allem aber auf das Amt, das dieser Filialdirektor bekleidete, und auf die Banktätigkeit, die er gehorsam nach den Weisungen des mit ihm blutsverwandten Politikers ausführte, der ihn auf diesem Posten hatte haben wollen.

    STATION DER KÖNIGLICHEN CARABINIERI VIGÀTA
    An den
    Signor Capitano der Kgl. Carabinieri Montelusa
An den
Signor Questore Montelusa
Vigàta, den 28. März 1890
    Betreff: Ermittlungen im Fall des vermissten Patò Tgb.-Nr.322

    Heute Morgen begaben wir uns, wie Ihnen gestern mitgeteilt,
    in die Praxis von Doktor Giosuè Picarella, des Hausarztes von Antonio Patò, um Näheres über den Gesundheitszustand des Vermissten in Erfahrung zu bringen.

      Doktor Picarella weigerte sich zuerst entschieden, unsere Frage zu beantworten, und behauptete, er dürfe als Arzt keine Auskünfte über die Kranken geben, die bei ihm in Behandlung seien, weil er eine Abmachung mit einem gewissen Hippokrates geschlossen habe (der, wie wir festgestellt haben, in Vigàta unbekannt ist) und daher nicht bereit sei, mit »Krethi und Plethi« (so hat er sich ausgedrückt) über Patò zu sprechen.

      Nachdem ich, Maresciallo der Kgl. Carabinieri, ihm mit scharfen Worten geantwortet hatte, dass ich nicht Krethi, und der Commissario gesagt hatte, dass er nicht Plethi sei und wir uns in Ausübung unseres Amtes in seiner Praxis befänden, beruhigte Doktor Picarella sich etwas und gab uns einige knappe Auskünfte, die wir wie folgt zusammenfassen.
      Antonio Patò ist von gesunder und kräftiger körperlicher Konstitution.

      Auf die Frage, ob er manchmal an Erinnerungslücken leide, antwortete der Doktor mit Bestimmtheit wie folgt: Niemals.

      Auf die Frage, ob er Patò in letzter Zeit untersucht und wie dieser auf ihn gewirkt habe, antwortete er wie folgt: Ich habe den Patienten Patò tatsächlich am Montag vor dem Freitag seines Verschwindens untersucht, weil er, also Patò, sich das linke Handgelenk verrenkt hatte, allerdings so geringfügig, dass man es nicht mit einer Armbinde fixieren musste, sondern nur mit einer Salbe einzureiben brauchte.
      Auf die erneute Frage, wie Patò im Ganzen auf ihn gewirkt habe, antwortete er wie folgt:
      Er hat lebhaft und erregt gewirkt, was er für gewöhnlich nicht war. Aber das war gewiss der bevorstehenden Aufführung des Passionsspiels zuzuschreiben, die Patò sehr wichtig nahm.
    Auf gezielte Nachfrage antwortete er wie folgt: Patò litt nicht
    an Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen oder plötzlicher Nervosität und nahm, da er nicht behandelt werden musste, keine besonderen Arzneien ein. Als wir in die Station zurückkamen, erwartete uns der Zimmermann Cosimo Vapano; er hatte eine Aussage zu einem Vorfall zu machen, der

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