Der zweite Kuss des Judas.
sich am Morgen des 24. zugetragen hatte, als ihn der Commissario anwies, die Bühne abzubauen, ein Vorfall, dem er keinerlei Bedeutung beigemessen hatte. Doch als er seiner Gattin davon erzählte, redet diese ihm zu, uns Folgendes zu berichten: Als der ganze obere Teil der Bühne bereits abgebaut und in Vapanos Lager gebracht worden war, erschien ein etwa fünfzigjähriger Herr auf der Piazza Grande, den der Zimmermann kaum verstand, denn der Herr sprach nur ein paar Brocken Italienisch. Schließlich begriff er, dass es sich um einen englischen Touristen handelte, der nach Montelusa gekommen war, um die Tempel zu besichtigen, und der davon gehört hatte, dass Patò verschwunden war. Er bat Vapano um Folgendes:
Ob er die Treppe untersuchen dürfe, die der Zimmermann gezimmert hatte, damit Patò in der Unterbühne verschwinden konnte, ohne dass er fürchten musste, sich wehzutun. Da Vapano nichts dagegen hatte und an der Bitte nichts fand, was die Suche nach dem Vermissten hätte stören können, willigte er ein.
Der Engländer betrachtete die Treppe eine Weile von allen Seiten und bat dann Vapano, ihm einen Meterstab zu leihen, mit dem er die Treppe sodann auf jede erdenkliche Weise vermaß, wobei er die Maße auf einen Bogen karierten Papiers übertrug, den er bei sich hatte. Nach einer etwa zweistündigen Untersuchung der Treppe dankte der Engländer, gab Vapano ein gewisses Trinkgeld (über dessen Höhe dieser sich nicht näher äußern wollte) und ging wieder.
Wir haben daraufhin einen Wachtmeister nach Montelusa geschickt, um im ersten Hotel der Stadt Erkundigungen über den Aufenthalt dieses Engländers einzuziehen. Der Wachtmeister berichtete wie folgt:
O. g. Engländer ist ein Lord namens Alistair O'Rodd und anscheinend Wissenschaftler am englischen Hofe. Wir verstehen den Grund und den Zweck seiner Vermessungen nicht. Aber ein Interesse des englischen Hofes am Verschwinden von Filialdirektor Patò erscheint uns abwegig. In der Umgebung der Tempel laufen manchmal Engländer herum, die nicht recht bei Verstand sind.
Zum Verständnis unserer weiteren Ausführungen erweist sich eine Prämisse als notwendig, die wir im Folgenden darlegen.
Am Tag vor der Aufführung des Passionsspiels erreichte die hiesige Station der Kgl. Carabinieri auf dem Postwege ein Brief aus Montereale, der von einem gewissen Onofrio Vasapolli mit Kreuz unterzeichnet war und in dem Folgendes stand:
Er hat einen Bruder, Arturo Vasapolli, der an religiösen Wahnvorstellungen leidet und lange Zeit in der provinzialen Irrenanstalt untergebracht war. Arturo Vasapolli war als genesen entlassen worden, doch in Wirklichkeit war er noch verrückter als vorher. Als er nämlich hörte, dass in Vigàta das Passionsspiel aufgeführt werden sollte, erklärte Arturo Vasapolli, Judas komme diesmal nicht ungeschoren davon und er werde ihn mit seinen eigenen Händen umbringen.
Da Arturo Vasapolli, gleich nachdem er das gesagt hatte, aus dem Hause seines Bruders, bei dem er lebte, verschwand, hatte dieser, um seiner persönlichen Verantwortung enthoben zu sein, den Vorfall der Station der Kgl. Carabinieri gemeldet.
Wir begaben uns nach Montereale, wo wir Arturo Vasapolli vor der Haustür kniend und inbrünstig betend antrafen. Sein Bruder erklärte uns gegenüber wie folgt: Nachdem Arturo das Haus verlassen hatte, hatte Onofrio Vasapolli ihn in den Straßen, bei den Nachbarn und auf dem Land in der Umgebung gesucht. Er nahm die Suche tags darauf, eben am Karfreitag, in der Morgendämmerung wieder auf und fand seinen Bruder schließlich etwa um fünf Uhr nachmittags im Haus von Agata Bontade, der bekannten Dorfdirne, die aussagte, Arturo habe sich seit dem vorhergehenden Tag in ihrem Bett befunden. Laut Aussage des gesunden Vasapolli wechseln sich bei Arturo Schübe religiöser Wahnvorstellungen mit Schüben sexueller Zügellosigkeit ab. Als er sich, in der Absicht, Judas zu töten, auf dem Weg Richtung Vigàta befand, packte ihn das Verlangen nach einer Frau, und er rannte zurück nach Montereale, um seine Begierde zu stillen.
Agata Bontade, die wir eigens befragten, hat die Aussage von Onofrio Vasapolli voll und ganz bestätigt.
Als wir aus Montereale zurückkamen, begaben wir uns in Patòs Wohnung, wo uns seine Ehefrau, Elisabetta Mangiafico, empfing; sie war merklich niedergedrückt, sei es wegen fehlender Nachricht von ihrem Gatten, sei es wegen eines unangenehmen, für das Ergebnis der Nachforschungen
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