Der zweite Kuss des Judas.
Bonafede)
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa An den
Capitano Comandante d er Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 31. März 1890
Tgb.-Nr. 217
Betreff: Bericht über den Fall des vermissten Patò
Hellhörig geworden durch die Ähnlichkeit zwischen den Worten des anonymen Briefes an Filiald irektor Patò (»du spielst den Judas und bist schlimmer als er«) und der Auffassung, die Pater Giustino Seminara in der Hauptkirche während der von Signora Mangiafico verh. Patò bestellten heiligen Messe geäußert hat, entsannen wir uns eines Vorfalls, der vor einiger Zeit in einem Nachbardorf geschah, als ein Arzt und ein Apotheker, die gemeinsam auf die Jagd gegangen waren, ermordet wurden. Nun gelang es Commissario Laurana, dem die Ermittlungen in dem Doppelmord oblagen, den Verfasser eines anonymen Briefes auszumachen; der Brief kündigte den Mord an und bestand wie der Brief an Patò aus Buchstaben, die aus einer Zeitung ausgeschnitten waren. Commissario Laurana hielt das Blatt gegen das Licht, sodass sich, wenn auch nur undeutlich, die Buchstaben abhoben, die auf der Rückseite jedes Konsonanten und jedes Vokals des anonymen Briefes gedruckt waren. So brachte er in Erfahrung, dass es sich um eine besondere Zeitung handelte, die in diesem Ort von zwei oder drei Personen gekauft wurde. Auf solche Weise wurde das Feld der Ermittlungen erheblich eingeschränkt. Beim Betrachten des Briefes an Patò im Gegenlicht mussten wir feststellen, dass der Mehlkleister, mit dem der anonyme Verfasser die Buchstaben des Briefes aufgeklebt hat, das Lesen unmöglich machte, weil der Kleister erstarrt war und das Papier verdickt hat. So lösten wir mithilfe von heißem Wasser und Wasserdampf alle Buchstaben ab und konnten sie etwas säubern. Auf diese Weise wurde der Verdacht, den wir bereits hegten, bestätigt: Die Zeitung, die man verwendet hat, ist der »Araldo di Montelusa« und damit das am weitesten verbreitete Tagblatt der Provinz. Zu guter Letzt haben wir diskrete Nachforschungen über eine mögliche Beziehung zwischen Antonio Patò und Pater Seminara angestellt. Die beiden sind sich nie begegnet. Gerolamo, der Bruder von Pater Seminara, wohnhaft in Montelusa, kannte Patò vom Sehen, hat aber nie irgendetwas mit ihm zu tun gehabt, auch nicht geschäftlich. Der Fehlschlag dieser wenn auch geringen Aussicht hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass der Hauptansatz der Ermittlungen falsch war.
Als wir mit den Vermessungen begannen, stellten wir gemeinsam Überlegungen an, und so kamen wir zu dem Schluss, dass man, entgegen den Gepflogenheiten bei den Ermittlungen in Mordfällen oder in Fällen verschwundener Personen, diesmal nicht mit der Suche nach dem MOTIV beginnen muss, sondern bei der Art und Weise, auf die man Patò hat verschwinden lassen.
Also nicht gleich das WARUM suchen, sondern sich dem WIE zuwenden.
Der Nutzen unserer Erhebungen und Vermessungen, aus denen die Ihnen zugesandten Pläne entstanden sind, besteht darin, stets die Funktionen der Örtlichkeiten vor Augen zu haben, sodass man die Wege von Patò und seinen Angreifern leichter rekonstruieren kann. Darüber hinaus teilen wir Ihnen mit, dass die Pläne sich als notwendig erwiesen haben, weil der Marchese jedes Mal, wenn wir auf seinen Palazzo zusteuern, über unsere Präsenz noch mehr verärgert ist und sich sogar zu Äußerungen wie der folgenden hinreißen lässt:
»Sie schon wieder? Wann hört denn dieses Theater endlich auf? Ich schließe den Palast und ziehe nach Palermo!« Zu Ihrer Kenntnisnahme.
Der Polizeikommissar Der Maresciallo der Kgl. Carabinieri
(Ernesto Bellavia) (Paolo Giummàro)
BISCHÖFLICHE KURIE MONTELUSA
An
Don Spiridione Randazzo
Dekan der Hauptkirche Vigàta
Montelusa, den 1. April 1890
Hochwürdiger Herr Dekan, ich möchte Ihnen das schmerzliche Bedauern S. Hwst. Exz., unseres innig geliebten Herrn Bischof, über den Vorfall vom vergangenen Karfreitag in der Hauptkirche in Vigàta übermitteln.
Unbesonnen war Ihr Tun, als Sie Pater Giustino Seminara einluden, während der heiligen Messe zu sprechen, mit der Signora Patò die Gnade erbitten wollte, Nachricht von ihrem Gemahl zu erhalten.
Don Seminara, ein frommer Mann und von edler Gesinnung, leidet an zwei kleinen Schönheitsfehlern: der nicht vollständigen Kontrolle über seine vehemente Eloquenz und dem eisernen Verfechten seiner Sache, wodurch er zu einer Figur geworden ist, wie sie seit den
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