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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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dabei aber immer hübsch fern von der Banca di Trinacria.

    GRAND HOTEL DES PALMES
    Palermo, den 1. April 1890
An den
Herrn Bürgermeister v on Vigàta

    Signor Sindaco!

      Mein Name ist Alistair O'Rodd, und ich bin Königlicher Hofastronom des Vereinigten Königreiches von Großbritannien. Freundlicherweise hat unser Konsul in Palermo, Signor Edwyn McFarlane, diesen meinen Brief in die italienische Sprache übersetzt.

      Vor nunmehr achtzehn Jahren löste die Veröffentlichung einer von mir entwickelten wissenschaftlichen Theorie über das Weltall unter Akademikern und Gelehrten in der ganzen Welt Diskussionen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen aus, die sehr häufig ebenso in ruchlose Verteufelung wie auch enthusiastische Zustimmung ausarteten.
      Diese meine Theorie, in volkstümlicher Ausdrucksweise als »Lückentheorie« bekannt, ist von der galileischen Transformation der Koordinaten von Raum und Zeit inspiriert.
    Im Inneren des Raum-Zeit-Kontinuums, in dem das uns bekannte Universum sozusagen schwimmt oder vielmehr wogt, befinden sich bekanntermaßen präzise Intervalle, die in der Transkription des Systems jeweils mit einem + (plus) oder einem - (minus) bezeichnet werden. In den allerseltensten Fällen nur koinzidieren zwei Vorzeichen des gleichen Wertes, fast immer entspricht dem Vorzeichen + des zeitlichen Gürtels exakt das Vorzeichen - des räumlichen Gürtels und viceversa.

      Die Frage, die ich mir schon als junger Mann stellte, lautet folgendermaßen:

      Was geschieht in dem Kontinuum in dem Augenblick, in dem sich zwischen Intervall und Intervall eine Lücke bildet? Wenn also zwei negative Zeichen koinzidieren? Diese Koinzidenz kann nur eine Leere erzeugen, also eine Lücke, die sich sowohl im räumlichen als auch im zeitlichen Gürtel bildet. Durch jedwede dieser Lücken könnte man sich in die Vergangenheit zurückbegeben oder in die Zukunft stürzen.
      Als ich auf dieses Problem stieß, lenkte eine glückliche Fügung meinen Blick auf einen kleinen Artikel des »Scientific«, der von einem ungewöhnlichen Vorkommnis in den Vereinigten Staaten von Amerika während des Sezessionskrieges berichtete; dieses Ereignis ist bekannt als »Der Mann, der um die Pferde herumlief«.

      Berichtet wird von einem Soldaten aus den Südstaaten, einem gewissen Anthony Patow, dem von seinem Sergeanten die Strafe auferlegt worden war, nicht weniger als fünfhundertmal um zehn Pferde herumzurennen, die alle an demselben Pfahl festgebunden waren. Patow war bei seinen Kameraden nicht beliebt, und daher wollten sie der Vollstreckung der Strafe beiwohnen, um sich über ihn lustig zu machen.

    Nach der vierzigsten Umrundung tauchte Patow nicht wieder auf. Anfänglich glaubten sie an einen Scherz oder dass ihr entkräfteter Gefährte sich ihren Blicken entzogen habe, und so machten sich drei Kameraden auf die Suche nach ihm, aber so viel sie auch umherblickten, sogar zwischen den Beinen der Reittiere, sie fanden ihn nirgends. Er hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Die Soldaten erhielten von ihren Vorgesetzten einen strengen Verweis. Obgleich sie bewiesen, dass der Pfahl mitten in einer weiten Ebene steckte, wo man sich unmöglich verstecken konnte, glaubte man ihnen nicht. Es erübrigt sich, hinzuzufügen, dass man von Patow nie wieder etwas gehört hat. Diese Episode nährte die allmähliche Destillation, der ich die praktische Auswirkung meiner Lückentheorie in der Praxis unterzog.
      Als ich Jahre später aus reiner Neugier in der von Marcel Lecoq verfassten Chronik von Sedan blätterte, erfuhr ich, gleichermaßen erstaunt wie befriedigt, dass am 31. August 1870, also zwei Tage vor der Kapitulation Napoleons III., ein französischer Soldat namens Antoine Pateau, der zu desertieren versucht hatte, an die Wand gestellt worden war und erschossen werden sollte. Doch plötzlich löste er sich vor den Augen des Exekutionskommandos, das die Gewehre auf ihn gerichtet hatte, buchstäblich in Luft auf, zurück blieben nur seine Fesseln, die schlaff am Boden lagen. Ich hegte keinen Zweifel mehr. Das war der endgültige, unwiderlegbare Beweis für die Richtigkeit meiner Theorie. Der Soldat Anthony Patow war bei seinem Kreisen um die Pferde in eine zeit räumliche Lücke gefallen, die ihn in die Zukunft schleuderte, denn schließlich erschien er Jahre später als Antoine Pateau in Sedan, um dann in eine neuerliche Lücke zu stürzen.
      Als ich mich in den vergangenen Tagen, um mich

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