Der zweite Kuss des Judas.
Zeiten der Kreuzzugs-Predigten verschwunden schienen. Darüber hinaus weiß man ja, dass Don Giustino Seminara sehr jenem Safte zuspricht, der, noch bevor er geweiht und in das Blut Unseres Herrn verwandelt wurde, Noah einschläferte.
In seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit vermochten S. Exz., unser Hwst. Herr Bischof, in den Worten des Fastenpredigers nicht die geringste an Ihn persönlich gerichtete Kränkung zu erkennen, wo es doch der ausdrückliche Wunsch S. Hwst. Exz. gewesen war, der Aufführung des Passionsspiels in Vigàta (und zwar in der ersten Reihe!) beizuwohnen.
Übrigens weisen S. Hwst. Exz. darauf hin, dass Pater
Seminara in seinen umfangreichen Ausführungen zumindest eine Unterlassungssünde begangen hat, insofern er Texte zitierte, die ihm für seine These genehm waren, und andere übergangen hat, weil sie für das berüchtigte Cicero pro domo sua nicht passten.
In der Tat hat Don Seminara verschwiegen, was ein Kirchenvater (vielleicht der höchste), der heilige Thomas von Aquin, an Wohlwollendem über das Theater sagt. Der Höchste akzeptiert den Beruf des Schauspielers und betrachtet ihn als statthaft, denn er findet daran nichts Teuflisches und erklärt daher im Einzelnen, dass das Theater weder unzulässig ist noch die Christliche Lehre selbst in Abrede stellt.
Seine Hochwürdigste Exzellenz haben die Güte, Ihnen Folgendes zur Kenntnis zu bringen: Selbst wenn die von Tertullian erzählte und von Pater Seminara erinnerte Episode wahr ist (bei der in eine Frau, die ins Theater gegangen ist, der Teufel fährt und sie in einen hemmungslosen fleischlichen Umgang stürzt, sodass der Teufel dem Exorzisten, der ihn bat, diesen Leib zu verlassen, antworten kann: »Ich habe diese Frau genommen, weil es mein Recht war, ich habe sie in einem Theater angetroffen, also in meinem Haus«), selbst wenn all dies wahr ist, dann ist ebenso, wenn nicht sogar in höherem Maße, unbestreitbar und wahr, dass der Schauspieler Genesius, als er am Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr. vor Kaiser Diokletian einen Mimus aufführte, in dem die Heilige Taufe verspottet wurde, wie ein Blitz von der Gnade getroffen wurde; er konvertierte augenblicklich und bekannte sich zum Christentum. Als er getötet wurde, verkündete er mit lauter Stimme seinen Glauben, und er wurde in die Schar der Heiligen aufgenommen. Doch diese unleugbare Tatsache hat Pater Seminara lieber nicht erwähnen wollen.
Und daher möchte Seine Hochwürdigste Exzellenz Sie väterlich einladen, diese seine Reflexionen über den heiligen Thomas und den heiligen Genesius als Anregung für Ihre kommende Predigt zu nehmen, um der unüberlegten Rede von Pater Seminara auf irgendeine Weise etwas entgegensetzen zu können, wenn sie auch leider Spuren im schlichten Gemüt der Gläubigen hinterlassen haben wird. Möchten Sie darüber hinaus die christliche Güte haben und Signora Patò die Aufwartung machen, um ihr die große Betrübnis S. Hwst. Exz. über das Geschehene auszudrücken? Seine Hochwürdigste Exzellenz entsenden Ihnen seinen väterlichen Segen.
Der Privatsekretär S. Exz. des Bischofs (Don Orione La Ferla)
La Gazzetta dell'Isola
Herausgeber: Gesualdo Barreca
Palermo, 1. April 1890
SELTSAME FREUNDSCHAFT
Man weiß in Vigàta, dass Commissario Ernesto Bellavia und der Maresciallo der Königlichen Carabinieri Paolo Giummàro bis vor kurzem wie Hund und Katz miteinander waren. Die auf Gegenseitigkeit beruhende Feindschaft ging so weit, dass die beiden, wenn sie sich auf der Straße begegneten, sich nicht einmal zu einem Gruß herabließen und keiner sich scheute, beim geringsten Anlass über den anderen zu lästern.
Seit nunmehr der Commissario und der Maresciallo auf höhere Weisung gezwungen wurden, im Fall des verschwundenen Antonio Patò einvernehmlich zu ermitteln, sind die beiden Vertreter des Gesetzes in Vigàta nach anfänglichem Widerstreben allmählich zu einem weniger kriegerischen Verhältnis übergegangen und schließlich zur vollkommensten und herzlichsten Eintracht gelangt. So können die Bürger Vigàtas die beiden jetzt: oft sehen, wie sie untergehakt promenieren und lebhaft miteinander sprechen, wobei sie sich mit »mein lieber Erne« und »mein lieber Paoli« anreden.
Die dicken Freunde gehen also untergehakt spazieren, stören mal die Ruhe des Palazzo Curtò, mal die der Hauptkirche, platzen hier in die Häuser respektabler Bürger und sehen da den Wald vor lauter Bäumen nicht, halten sich
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