Der zweite Kuss des Judas.
Montelusa
Redakteur: Pasquale Mangiaforte
Samstag, 29. März 1890
EIN UNERFREULICHES EREIGNIS
Am gestrigen Freitag, eine Woche nach dem unerklärlichen und leider noch immer ungeklärten Verschwinden von Filialdirektor Patò, über das wir in den vergangenen Tagen ausführlich berichteten, ließ Elisabetta Mangiafico, die Ehefrau von Antonio Patò, um Gnade für die Rückkehr ihres Gatten zu erbitten, eine eigene Messe lesen, der sie mit ihren Kindern und einer großen Schar von Verwandten, Freunden und Bekannten beiwohnte. Der berühmte Fastenprediger Pater Giustino Seminara weilte seit zwei Tagen in Montelusa als Gast bei seinem Bruder, und so bat Dekan Don Spiridione Randazzo ihn, einige Worte des Trostes und der Hoffnung zu sprechen.
Pater Seminara nahm mit Freuden an und scheute sich daher nicht, mit donnernder Stimme seine Gedanken zu dem Verschwinden zu äußern. Als der tüchtige Fastenprediger seine Ausführungen beendet hatte, fiel Signora Mangiafico in Ohnmacht und wurde, begleitet von ihren heftig weinenden Kindern und den verständlicherweise aufgeregten Verwandten und Freunden, nach Hause getragen. Im Folgenden fassen wir die, um die Wahrheit zu sagen, recht verwegene Theorie zusammen, die Pater Seminara zu dem Geschehen geäußert hat. Zuerst erinnerte er daran, dass die Heilige Mutter Kirche immer schon, zu allen Zeiten, das Theater hart und streng verurteilt hat, das stets und in jedem Falle, auch wenn es sich als erbauliches Schauspiel ausgibt, höchstes Werk des Teufels ist. Mit außerordentlicher Gelehrsamkeit zitierte er Passagen des Apostels Paulus, des Apostels Jakobus, des Tertullian, des heiligen Augustinus und anderer, die hier der Kürze halber unerwähnt bleiben, und erklärte sodann, er wolle sich eine Überlegung des großen Jacques Bénigne Bossuet, des Bischofs von Meaux, zu Eigen machen, der unter anderem ein umfangreiches Werk von Maximen und Gedanken über das Theater verfasst hat. Was vertritt nun Bischof Bossuet und mit ihm Pater Seminara? Dass die Begriffe Theater und Passion ein und dasselbe sind und daher die Darstellung, die Neuschöpfung einer Passion auf den Brettern der Bühne den Zuschauer gleichsam veranlasst, ebendiese Passion zu erdulden, zu erleiden.
Um die Wahrheit seiner Worte zu beweisen, wandte sich Pater Seminara direkt an die Gläubigen und fuhr sie hart an: »Wie viele unter euch haben zusammen mit einem Schauspieler oder einer Schauspielerin geweint und gelitten, die auf den Brettern der luziferischen Bühne wegen eines möglicherweise sündhaften, sogar ehebrecherischen und nur von verwirrter Erregung geleiteten Liebesleides weinten und litten? Hat euch der Schauspieler durch sein Tun nicht mit sich fortgerissen, hinein in die Spirale der Todsünde?« Und so beendete Pater Seminara diesen Teil seiner Rede: »Der Schauspieler ist ansteckend! Er ist fähig, der ganzen Welt sein verderbliches Gift einzuimpfen! Und eben darum war es in den Zeiten wahrer Achtung vor den Geboten der Heiligen Mutter, der Kirche, strengstens untersagt, Komödianten in geweihter Erde zu bestatten!«
Daraufhin fuhr der Fastenprediger fort und erklärte, er habe in den zwei Tagen seines Aufenthalts in Montelusa auf eigene Faust Nachforschungen über das Geschehen in Vigàta angestellt. Er habe erfahren, dass nach Ansicht der übergroßen Mehrheit derer, die dem Passionsspiel beigewohnt haben und seit Jahren beizuwohnen pflegen, Antonio Patò als Darsteller des Judas von Aufführung zu Aufführung immer besser und immer überzeugender, also immer abstoßender als Verräter schlechthin geworden sei. Einer der Befragten habe sogar versichert, Patò habe während der Vorstellung vergangene Woche einen solchen Grad an Wahrhaftigkeit erlangt, dass er in den Augen vieler wie die Reinkarnation des wahren Judas erschienen sei. Advokat Angelo Maria Lobianco (»er selbst hat mir gestattet, seine Worte wiederzugeben«, erklärte Pater Seminara) sei von dieser Verkörperung des Judas dermaßen erschüttert gewesen, dass er sich auf die Schuhe seines Platznachbarn habe übergeben müssen, der dies bei Bedarf bezeugen könne. Dass Patò - fuhr Pater Seminara fort - ein solches Maß an Identifikation erreicht habe, sei einigermaßen voraussehbar gewesen. Denn wer sich freiwillig erböte, die Rolle des Judas zu spielen, beweise, dass sich in den Falten seines Herzens ein angeborener Hang zum Bösen, eine natürliche Berufung zum Verrat verberge. Im besonderen Fall des Antonio Patò habe
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