Der zweite Mord
Spiegelbild.
Ihr Haar war in Ordnung. Rotbraun und halblang, voll und mit vereinzelten grauen Strähnen. Es war viel zu lang, aber morgen wollte sie ja zum Friseur. Sie hatte ein ovales Gesicht und einen breiten Mund mit hübschen Zähnen. Aber unter den Augenbrauen war die Haut etwas schlaff. Versuchsweise zog sie mit den Fingerspitzen die Stirn glatt. Die Brauen wanderten nach oben, und die schlaffe Haut verschwand und wurde von einem Ausdruck echten Erstaunens abgelöst. Kein gutes Aussehen für eine Kriminalinspektorin. Sie konnte schließlich an Tatorten und bei Verhören nicht mit einem Gesichtsausdruck herumlaufen, der besagte: »Ach was? Ist das wahr?« Dieser Gedanke war angenehmer als der, dass ihr die zwanzigtausend Kronen fehlten, um sich liften zu lassen. Mit einem Seufzer ließ sie ihre Stirn los und sah auf die Uhr. Es war höchste Zeit, zur Löwander-Klinik zu fahren.
In der Nähe der Klinikeinfahrt sah Irene ein paar Jungen auf der Brücke stehen. Sie fuhr langsamer und sah, dass aus dem Bach nach den Wolkenbrüchen des Wochenendes ein breiter Fluss geworden war. Spontan hielt sie an und parkte am Straßenrand. Ohne Eile schlenderte sie auf die Jungen zu, die alle Schüler der Mittelstufe zu sein schienen. Ein kräftiger Junge in lehmverschmutzter Snowboardjacke hing halsbrecherisch an der Außenseite des Brückengeländers, während er mit dem anderen Arm in den Hohlraum unter der Brücke stieß. In der Hand hielt er den Stamm eines Weihnachtsbaums ohne Äste.
Einer der kleineren Jungen entdeckte Irene und sagte entschuldigend:
»Er versucht nur das wegzukriegen, was den Durchlass verstopft.«
Jetzt sah Irene, dass der Bach nur auf der Zuflussseite angeschwollen war. Auf der anderen Seite der Brücke sah er aus wie vorher: Ein breiter Bach, der in den Mölndalsån münden würde.
Der Junge mit der Tanne stöhnte vor Anstrengung.
»Da ist … was. Das spüre ich … Verdammt! Das sitzt fest! Nein, jetzt löst …!«
Fast verlor er den Halt am Brückengeländer, als sich der Stamm mit einem Ruck löste. Es dauerte einige Sekunden, bis Irenes Hirn fasste, was ihre Augen da sahen. Vorne am Stamm baumelte eine durchnässte rosa Mütze mit Bommel.
Die Taucher der Feuerwehr halfen bei der Bergung. Irene hatte auch Kommissar Andersson und Tommy Persson kommen lassen. Die drei Kriminalbeamten starrten düster auf die mitgenommene Leiche von Gunnela Hägg. Das Leben war gewiss nicht gerade schonend mit Mama Vogel umgegangen, aber auch ihr Tod war nicht besonders barmherzig gewesen. Kleine Tiere hatten an ihrer Nase und ihren Lippen genagt. Während sie auf den Gerichtsmediziner warteten, zogen sie eine graue Plane über die Leiche. Der Körper war dünn und ausgemergelt. Unter dem kräftigen Plastik waren kaum Konturen zu erkennen. Bedrückt gingen sie zum anderen Fund der Feuerwehrleute hinüber.
Linda Svenssons Fahrrad lag am Rande des Baches. Es hatte sich im Durchlass unter der Brücke verkeilt und die Leiche von Gunnela Hägg im reißenden Strom des Schmelzwassers festgehalten. Kommissar Andersson sah grimmig auf das Fahrrad, ehe er so leise, dass nur seine Inspektoren ihn hören konnten, murmelte:
»So sieht also ein Citybike aus.«
Dann riss er sich zusammen und wandte sich an den Brandmeister.
»Ich hätte gerne, dass ihre Leute das Gebiet um die Brücke und ein Stück stromabwärts absuchen. Vielleicht hat uns der Mörder dort noch mehr Sachen hinterlassen.«
Ein weißer Ford Escort fuhr rasant auf die Brücke, und Yvonne Stridners rote Mähne wurde hinter den Scheiben sichtbar. Irene war unerhört erleichtert, im Gegensatz zu ihrem Chef. Sie fand es gut, jemanden mit Stridners Fähigkeiten am Mordplatz zu haben.
»Das Fahrrad ist hier. Aber wo ist Linda?«, wollte der Kommissar wissen.
»Linda? Heißt das Opfer so?«, war Stridners Stimme zu vernehmen.
Sie hatte die Gruppe der Polizisten erreicht und schaute prüfend auf die graue Plane.
»Nein. Linda ist die verschwundene Krankenschwester. Ihr Fahrrad liegt da drüben. Das Opfer heißt Gunnela Hägg und ist Stadtstreicherin«, sagte Andersson.
»Ach so. Heute Nacht hat sie jedenfalls ein Dach über dem Kopf. Heute Nachmittag komme ich nicht mehr dazu, sie zu obduzieren, aber morgen früh mache ich es gleich als Erstes.«
Manche müssen für ein Dach über den Kopf erst einmal sterben, dachte Irene. Bei Stridners barschem Kommando zuckte sie zusammen:
»Umdrehen!«
Die Aufforderung war an zwei Feuerwehrleute gerichtet,
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