Der Zweite Tod
schon lag. Der Zaun am Rosenbeet war dreißig Zentimeter hoch und so zugeschneit, dass ein Unwissender auf der Nase landen würde.
Am Abend war er früh ins Bett gegangen und fühlte sich jetzt ausgeschlalen. Routiniert stieg er in die weiche braune Kordhose, die über dem Stuhl hing, und sah sich nach einem Oberteil um. Ein frisches Hemd war nur für den Preis eines mauerndurchdringenden Quietschens der Schranktür im Flur zu bekommen. Aber auf dem Stuhl entdeckte er den Pulli, der ihm gerade recht kam. Im Büro wartete noch ein frisches Oberhemd. Da konnte er später wechseln. Er schlich ins Bad, putzte sich die Zähne und reckte sein Kinn zum Spiegel. Die nächste Rasur konnte auf jeden Fall bis zum Abend warten. Kjell drehte das kalte Wasser auf und schöpfte es sich dreimal ins Gesicht, bis er sich erfrischt wie ein Neununddreißigjähriger fühlte. Sein Haar war für seine zweiund vier zig Jahre unglaubwürdig braun geblieben und lag ausnahmsweise so, wie er es sich wünschte. Es würde ein guter Tag werden.
Draußen folgte er dem schneeschaulelbreilen Pfad bis zur Straße. Der Schnee gab knautschend nach. Bei Umberto im Hausmeisterschup pen brannte Licht, und in ei niger Ent fernung schippte ein Mensch um sein Leben. Ob sie in der Innenstadt schon räumten? Er fragte sich, wie lange sie bis Vasastan brauchen würden. Das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Ringstraße und der Westbrücke war verstummt. Es war wärmer, die Temperatu ren wa ren in weni gen Stunden stark ge stiegen. Seine Schätzung lag bei fünf Grad unter null.
Einige Minuten lang stand er da und fand, dass die Baumstämme jetzt alle kohlschwarz aussahen. Wo blieb Sofi? Er warf zwei Schneebälle auf das Stoppschild, doch sie lösten sich weit vor dem Ziel in weiße Pulverwolken auf. Dann begann er, langsam, aber sicher auf der Stelle zu stampfen, bis er aus der Ferne den Motor quengeln hörte. Bald darauf hielt Sofi neben ihm, die Beifahrertür wurde beherzt von innen aufgedrückt. Er stutzte. Aus dem Wagen kletterte seine Tochter. Sie hatte Schnee auf dem Kopf, und weiße, runde Klumpen hingen in ihren langen Haa ren wie Weih nachts baum kugeln. »Linda?«, fragte er. »Was machst
du
hier?« Sie drängte sich wortl os an ihm vorbei. So in Rage hatte er sie noch nie erl ebt. Ihre Hos enbeine war en weiß bis zu den Knien hinauf und der Stoff steifgefroren. Linda lief schwerfällig, stampfte und taumelte, immer wieder trat sie leise fluchend und jammernd gegen den Schnee, der in der Luft zerstob. Sie verschwand im Hauseingang.
Linda war siebzehn und Sofi fünfundzwanzig.
Er stieg in den Wagen und begrüßte Sofi. Sie fuhr sofort los. Gespannt wartete er auf eine Erklärung.
»Ich habe sie am Hornstull auf der Straße laufen sehen.« Ohne Grund flüsterte sie. »Sie wollte in die Schule.«
Er lachte herzlich. Sofi konnte sich nicht entscheiden, ob sie Linda be dau ern oder mit lachen sollte.
»Das passiert mir aber auch manchmal«, sagte sie ernst. »Dass ich mich in der Zeit vertue.«
Er betrachtete sie ungläubig von der Seite. »Sie hat alles durchgeplant, damit sie es rechtzeitig schafft. Das muss ihre Nerven überfordert haben.«
Jetzt begann sie zu lachen. Es klang tief.
»Zuerst wollte sie mir gar nicht glauben. Sie war schon völlig erschöpft, weil sie die ganze Strecke durch den Schnee gestapft ist. Wir müssen sie später anrufen, damit sie nicht verschläft. Sie war völlig verzweifelt und sauer auf sich. So war sie noch nie.«
Er stellte den Wecker seines Telefons auf sechs Uhr. Ausgerechnet heute, wo sie den Test hatte. »Kannst du schon etwas sa gen?«
»Muss ein Toter sein.«
»Aber was geht uns das an?«
»Mehr weiß ich noch nicht, aber die Reichspolizei leitung hat ausdrück lich uns ange fordert.«
Sofi stammte aus Värmland. Das Fahren im tiefen Schnee lag ihr also im Blut. Kjell genoss die Fahrt durch die Dunkelheit und die leeren Straßen. Auch die Räumfahrzeuge waren noch nicht ausgerückt. Von nun an schwiegen sie.
Die Heizung lief auf der untersten Stufe. Er stellte sie ganz ab. Das Gebläse hatte die warme Luft im Auto verteilt, die nach Sofi roch. Ihre Jacke lag auf der Rückbank. Sie trug einen schwarzen Pullover und hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht, während sie aufmerksam auf die rutschige Straße sah und sich mehrmals zu ihm drehte. Ihre dunklen Haare hatte sie nach dem Aufwachen nass gekämmt, und an den Ansätzen hatten sich feine Strähnen gebildet wie nach einem Tag am Strand.
Nach
Weitere Kostenlose Bücher