Der Zwerg reinigt den Kittel
Indianerstamm im mittleren Norden Kanadas. Dort betrachten es die alten Männer als letzten Liebesbeweis ihrer Kinder, wenn die Kinder sie erwürgen. Ich zitiere:
»Sobald ein Mann seinen Tomahawk nicht mehr mit ganzer Kraft heben kann, befiehlt er seinen Kindern, ihm aus Liebe ein Grab zu bauen. Die Kinder gehorchen und bauen das Grab, in das der alte Chipewyan dann leichten Schrittes hineingeht. Dort raucht er eine Pfeife und trinkt noch etwas, während er sich mit seinen Kindern unterhält. Wenn er dann bereit ist, wird ihm ein Strick um den Hals gelegt, an dem zwei Kinder, im Idealfall die Lieblingssöhne, aus entgegengesetzter Richtung ziehen, bis der Tod eingetreten ist. Dann wird das Grab geschlossen.«
Natürlicher Tod? Ob der überhaupt vorkommt bei den Indianern und Eskimos?
Klar. Kommt vor. Ist aber nicht gut, ich zitiere:
»Die Chipewyans glauben fest daran, dass jeder, der einfach nur an Altersschwäche stirbt, als Greis ins Totenreich eingeht. Wer aber rechtzeitig umgebracht wird, kommt als Jüngling dorthin.«
Altersblödheit.
Altersdepression.
Altenheime, voll mit senilen traurigen Leuten, die den Jungen die Haare vom Kopf fressen und selbst keinen Finger mehr rühren, das hat es alles nicht gegeben, früher, bei den Indianern und Eskimos.
Pflegestufe eins bis drei, Berge von Inkontinenzwindeln, ein Totenreich voller Greise â hat es alles nicht gegeben, bis dann die ersten weiÃen Humanisten gekommen sind und gesagt haben, dass sich das nicht gehört mit dem Erwürgen und Ertränken.
Gerontozid gehört sich nicht, haben sie gesagt, und das war vielleicht nett gemeint, aber es war nicht gut gedacht. Kein kluges Urteil. Nicht zukunftsorientiert, nicht ökonomisch.
Wir hätten uns ein Vorbild nehmen sollen an unseren rothäutigen Brüdern und eiskalten Mitmenschen vom Polar, wir warmherzigen Humanisten, aber wir haben es verkackt, damals, und jetzt ist die Kacke am Dampfen, wie man so sagt.
So sagt es die Ministerin übrigens nicht. Sinngemäà schon, aber wörtlich nicht. Wörtlich sagt die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in das Mikrophon, das ihr irgendjemand unter die Nase hält: »Wir stehen vor einer ganz groÃen Herausforderung.«
Sie sagt: »Wir müssen uns der Herausforderung einer radikal alternden Gesellschaft stellen.«
Dann sagt sie, dass die Bürgerinnen und Bürger heute bis zu vierzig Jahre länger leben als noch vor hundert Jahren und dass wir dieser Entwicklung durch ein nachhaltiges ökonomischen Konzept der Ressourcenaktivierung gerecht werden müssen.
»Ãltere Menschen«, sagt die Ministerin und lächelt in die Kamera, »dürfen nicht länger zu Renten- und Fürsorgeempfängern herabgewürdigt werden. Sie sind eine kostbare Ressource.«
Ich höre nicht hin. Nicht wirklich, nur nebenbei, und mit dem Hinsehen ist es wie mit dem Hinhören, nur nebenbei.
Fernsehen.
Wir machen das jeden Vormittag hier in der R ESIDENZ , immer drei Stunden, von neun bis zwölf, dann schlurfen wir wieder in den Speisesaal, zum Mittagessen. Wenn man die drei Stunden zwischen Mittagessen und Kaffee dazurechnet, in denen wir auch fernsehen, dann sind das sechs Stunden täglich, und ich weià ja nicht, wie es Ihnen geht bei der Vorstellung, täglich sechs Stunden vor der Glotze abzuhängen, aber ich finde die Vorstellung eigentlich ganz schön.
Schöne Vorstellung, weil Fernsehen kann schon Spaà machen, da gibt es eine ganze Menge Sendungen, die mir gefallen könnten. Zum Beispiel diese amerikanischen Serien mit den Gerichtsmedizinern, die ständig irgendwelche grausam verstümmelten Leichen aufschlitzen und dann aus dem Mageninhalt erkennen, wer der Mörder war.
Stattdessen:
Unser blauer Planet: Die Folgen des Klimawandels.
Einfach gesund: Yoga im Alltag.
Herzschlag heute: Am Puls der Politik.
An unserem ersten Vormittag in der R ESIDENZ habe ich den ganzen Fernsehraum nach der Fernbedienung abgesucht, damit ich vom Puls der Politik auf die Leichenschlitzer umschalten kann. Da war übrigens auch gerade die Ministerin im Bild und hat lächelnd von der Leistungsbereitschaft älterer Bürgerinnen und Bürger geredet. Die Ministerin ist ständig im Bild die letzten Tage, wirklich ständig. Irgendein Reformprojekt. Irgendwas Zukunftsorientiertes, mit den Details rückt die Ministerin nicht heraus, und wenn jemand
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