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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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schon kurz sind. Dann zieht sie dir Schuhe an, ohne Socken oder Strümpfe, und du humpelst den ganzen Tag in deinem eigenen Blut herum.
    Aber das ist nur ein Gerücht.
    So wie die Sache mit der Intimpflege und der Drahtbürste.
    Die Sache mit dem kochend heißen Waschwasser.
    Die Sache mit den Bettgurten.
    Den Abführmitteln.
    Ãœberhaupt die ganze Sache mit den Medikamenten, aber das sind alles nur Gerüchte.
    Schwester Cornelia sagt, dass Schwester Terese vielleicht manchmal ein bisschen streng ist, aber dass man das sein muss als Oberschwester. Sie sagt, dass alte Leute gerne Sachen erfinden. Dass sie viel Unsinn schwätzen, wenn der Tag lang und das Fernsehprogramm schlecht ist. Das Fernsehprogramm, sagt Schwester Cornelia, ist immer schlecht, kein Wunder also.

11
    Â»Tisch eins: vollzählig.
    Tisch zwei: vollzählig.
    Tisch drei: Felix Mutspiel, entschuldigt. Seine Enkeltochter hat ihn heute Morgen abgeholt und ordnungsgemäß abgemeldet. Er bleibt die nächsten drei Tage bei ihr. Die Bettfreihaltegebühr wurde ordnungsgemäß entrichtet.
    Tisch vier: drei Personen nicht am Platz. Erstens: Konstanze Kropp, entschuldigt, da letzte Nacht verstorben. Zweitens: Sebastian Knabe, unentschuldigt. Wahrscheinlich steckengeblieben.«
    Frau Schnalke macht eine Pause. Die macht sie immer, wenn der erste unentschuldigte Name gefallen ist.
    Ein schwarzer Vogel flattert lautlos durch den Speisesaal.
    Sie wird ihn mit einer Drahtbürste saubermachen.
    Â»Drittens: Renate Wimmer, unentschuldigt. Verbleib ungeklärt.«
    Sie wird ihr die Nägel blutig schneiden.
    Â»Außerdem habe ich zwei Verstöße gegen die Heimordnung zu melden. Erstens: Verstoß gegen Artikel achtzehn durch Anna Sonne. Artikel achtzehn: Von den Bewohnern und Bewohnerinnen der R ESIDENZ wird erwartet, dass sie rücksichtsvoll miteinander umgehen. Frau Sonne hat heute zum wiederholten Mal die blauen Pantoffeln mit der PVC -Sohle getragen, obwohl sie genau weiß, dass die Sohle nicht gut ist für Attila.«
    Striemen. Blutergüsse.
    Â»Zweitens: Verstoß gegen Artikel fünfundzwanzig der Heimordnung durch …«
    Maldtnaz zebberck.
    Â»â€¦ durch …«
    Maldtnaz zebberck.
    Frau Schnalke macht eine fahrige Bewegung und blinzelt verwirrt. Attila streicht um ihre Beine, grau und träge wie die Rauchschwaden in einer Kifferkneipe.
    Â»Nutella«, murmelt Frau Schnalke fast unhörbar, »unbedingt melden … Verstoß durch …«
    Attila, grau und träge.
    Frau Schnalke strafft die Schultern und sagt laut: »Keine weiteren Verstöße.« Sie setzt sich.

12
    Früher war das ganz normal. Nicht bei uns, aber bei den Eskimos zum Beispiel oder bei den Indianern. Ganz normal, und keiner hat sich beschwert, bis dann die ersten Weißen gekommen sind. Sie sind nach Grönland gefahren oder in die kanadischen Wälder und haben alles zunichtegemacht. Eine jahrtausendealte Tradition: einfach ausgelöscht.
    Weiße Missionare.
    Christen.
    Oder Humanisten, man weiß nicht, welche schlimmer waren, da streiten sich die Forscher bis heute. Sicher ist nur, dass die rituelle Altentötung eine ganz normale Sache war, zum Beispiel bei den Inuit in Ostgrönland. Die haben ihre gehbehinderten oder bettlägerigen Senioren an Stricken aus den Iglus geschleift und zum Meeresufer gezogen. Dort haben sie die Senioren mit Steinen beschwert und versenkt.
    Oder die Polar-Inuit: Bei denen war es jahrtausendelang üblich, die Alten nicht aus dem Iglu zu schleifen, sondern im Iglu einzumauern. Ohne Wasser und Nahrung, versteht sich.
    Und die Eskimosenioren waren mit allem einverstanden.
    Einverstanden, ertränkt zu werden.
    Einverstanden, lebendig begraben zu werden.
    Das berichten viele Ethnologen und Feldforscher, zum Beispiel der berühmte Ethnologe und Feldforscher Knud Rasmussen. Ich zitiere:
    Â»Wer für die Gemeinschaft nutzlos geworden ist, weil er aus Altersgründen nicht mehr jagen kann oder Kinder gebären, der betrachtet es als seine Pflicht, so schnell wie möglich zu sterben. Umgekehrt ist es die Pflicht der Jungen, die Alten so schnell wie möglich zu töten.«
    Rasmussen spricht von Pflicht, aber was er meint, ist Würde.
    Er meint Würde, aber woran er denkt, ist Liebe.
    Die Liebe der Jungen zu den Alten.
    Siehe auch: Thomson.
    Der berühmte Ethnologe und Feldforscher Samuel Thomson hat monatelang bei den Chipewyans gelebt, einem

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