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Der Zwergenkrieg

Der Zwergenkrieg

Titel: Der Zwergenkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte die Lektion begriffen.
    Trommeln!
    Alberich ließ die Geißel fast ein zweites Mal fallen. Es war kein Traum! Diesmal hatte er die Laute ganz deutlich gehört. Zwei, drei pochende Trommelschläge, die im Echo des Berges ein geisterhaftes Eigenleben gewannen. Das konnte nicht sein!
Durfte
nicht sein!
    Mit bebenden Fingern verriegelte er die Sichtluke des Portals, eilte dann durch die riesige Eingangshalle mit ihren haushohen steinernen Türwächtern bis zum Absatz einer breiten, flachstufigen Treppe. So schnell wie nie zuvor sprang er sie hinunter, erreichte eine Plattform über einem tiefen Abgrund und nahm dort eine Abzweigung in einen Seitengang. Hier befanden sich, hinter Vorhängen aus grobem Stoff, die Schlafquartiere der Gefährten.
    Alberich riss Löwenzahns Vorhang zur Seite, baute sich vor dem Lager des Halbhunnen auf und rüttelte kräftig an dessen Schultern; sie waren fast so breit, wie Alberich hoch war.
    Der Krieger öffnete knurrend ein Auge. »Was willst du?«
    »Du musst hoch zum Tor, meine Wache übernehmen!«, rief Alberich atemlos. »Sofort!«
    Löwenzahns Auge fiel wieder zu. »Ja, ja.« Und schon schlief er weiter. Alberich schüttelte ihn und fluchte. Vergebens. Löwenzahn und Geist waren erst am späten Abend zurückgekehrt, vollkommen erschöpft, und schon nach wenigen Worten waren sie in ihren Quartieren verschwunden. Wahrscheinlich würde Löwenzahn auch dann weiterschlafen, wenn der Berg um ihn zusammenbrach.
    Alberich sprang zurück auf den Gang und versuchte es bei Mütterchen. Die alte Räuberin war in Windeseile hellwach, obgleich sie keinen Zweifel daran ließ, dass ihr die Störung alles andere als behagte.
    »Du bist eine Plage, Alberich Horthüter!«, schimpfte sie und rieb sich die Augen.
    »Bitte«, flehte er, »übernimm meine Wache am Tor. Ich muss hinunter zum Hort.«
    Mütterchen riss die Augen auf. »Mitten in der Nacht?«
    »Ich habe …« Und er brach ab, um zu überlegen, ob er Mütterchen von den Trommelschlägen erzählen sollte. Er beschloss, vorerst zu schweigen. Mütterchen würde ihm nur vorwerfen, dass er eingeschlafen war und geträumt hatte. »Es ist wichtig«, sagte er deshalb nur und hoffte, Mütterchen würde keine weiteren Fragen stellen.
    Tatsächlich seufzte sie nur und stand auf. So viel Gleichmut war für sie höchst ungewöhnlich und musste daran liegen, dass sie noch immer furchtbar müde war.
    Alberich wartete nicht ab, bis sie sich angekleidet und bewaffnet hatte. Stattdessen lief er hinaus auf den Gang, rief über die Schulter ein knappes ›Danke!‹ und eilte von der Plattform aus eine zweite Treppe hinab, die tiefer ins Herz des alten Zwergenreiches führte.
    Er durchquerte mehrere Ebenen, die zum Teil so wirr miteinander verschachtelt waren, dass nur ein Zwerg die Grenzen zwischen den Stockwerken ausmachen konnte. Alberich lief achtlos durch die Große Halle der Schnitzwerke, ein hoher Saal, in dem hölzerne Skulpturen eines verrückten Zwergenkünstlers vermoderten. Gleich daran schloss sich eine Halle an, in der Statuen aus Stein über reich verzierte Wände wachten, Werke begabter Steinmetze, deren Arbeiten den felsverliebten Zwergen viel näher waren als der verhasste Umgang mit Holz.
    Weitere Treppen, weitere Kammern und Säle, und immer noch hatte Alberich nicht einmal das obere Drittel des Zwergenreiches hinter sich gelassen. Im magischen Zwielicht des Felslabyrinths sah er so deutlich wie ein Mensch bei Tageslicht, und doch erfüllte ihn die Weite und Leere der endlosen Flure und Hallen zum ersten Mal mit Schaudern. Er stellte sich vor, wie es einst gewesen war, als hier ein gnadenloser Krieg getobt hatte. Ein Krieg, der sich durch fernes Trommeln angekündigt hatte.
    Atemlos, mit rasendem Herzen, blieb er einen Augenblick stehen, am Grunde einer künstlichen Schlucht aus behauenen Felswänden, die übersät waren mit einer Heerschar grinsender Wasserspeier. Hoch über ihm wölbte sich ein Himmel aus Granit, so weit entfernt wie Gewitterwolken über dem Rhein. Die stumme Majestät dieses Anblicks hätte Alberich zu jedem anderen Zeitpunkt vor Ehrfurcht erstarren lassen, schwärmend im Angesicht solcher Pracht. Doch jetzt hatte er für solche Dinge keine Zeit.
    Er horchte. Beinahe hoffte er, das unheimliche Trommeln möge sich noch einmal wiederholen, nur damit er Gewissheit hatte, dass er sich nicht täuschte. Doch jetzt herrschte Stille im verlassenen Zwergenreich, abgesehen vom Brausen unterirdischer Luftströme und dem leisen

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