Der Zypressengarten
offenen Augen umzusehen und dich an der Schönheit der Natur zu freuen. Du existierst ganz und gar in der Gegenwart.« Grinsend richtete er sich wieder auf.
Clementine tunkte ihren Pinsel ins Wasser. »Na schön, dann existiere ich mal in der Gegenwart. Ich bin mir aber nicht sicher, dass mein Bild deshalb gleich besser wird.«
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. » Du wirst dich besser fühlen.«
Die sechs jungen Frauen auf Junggesellinnenabschied legten einen Wellness-Tag ein, und die Vogelbeobachter aus Holland hatten sich auf die Suche nach dem Einsamen Wasserläufer gemacht. »Ich bin froh, dass wir unsere letzten paar Tage nicht mit diesen vulgären jungen Dingern verbringen müssen«, sagte Grace, die ihren Hermès-Schal unterm Kinn zusammenband, um ihre Frisur vor dem Wind zu schützen.
»Sie sind jung, Grace«, entgegnete Veronica. »Sie wollen doch bloß ihren Spaß haben.«
»Trotzdem haben sie keinen Stil. Zu unserer Zeit führten sich junge Frauen nicht wie ungehobelte junge Kerle auf.«
»Na, ich mich schon ein bisschen«, sagte Pat. »Ich war ein ziemlicher Wildfang.«
»Das ist etwas anderes. Du bist nicht rumgelaufen und hast dich allen Männern an den Hals geworfen.«
»Hätte ich dein Aussehen und Veronicas Anmut gehabt, wer weiß?«, konterte Pat kichernd.
Zuerst konnte Clementine sich nicht vollständig auf ihre Umgebung einlassen. So sehr sie es auch versuchte, war sie von Rafa abgelenkt, der auf und ab ging und ihnen Tipps gab. Erst als er sich neben sie setzte und begann, sich in sein eigenes Bild zu vertiefen, konnte Clementine entspannen. Die Stille war beruhigend, und Clementine hatte nicht das geringste Bedürfnis, sie mit leerem Geplapper zu füllen. Rafa schien in eine eigene Welt einzutauchen, und bald folgte sie ihm dorthin, nahm jede Möwe, jeden Stein wahr, bis sie aufhörte, sich selbst fühlen.
Die Sonne ging unter, als sie zum Hotel zurückkehrten. Rafa war beeindruckt von Clementines Bild.
»Du willst nur nett sein«, widersprach sie ihm.
»Nein, du hast eine interessante Art, mit Farbe umzugehen.«
Sie lachte. »Ja, sicher, interessant, aber nicht sonderlich gut.«
»Das lass mich beurteilen.« Sein Blick verharrte für gefühlte Minuten auf ihrem Gesicht.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte sie verlegen.
»Heute Abend ist das Licht golden.«
»Ja, ist es.«
»Ich möchte dich malen.«
»Also wirklich, Rafa, ich glaube, nicht einmal du kannst eine Botticelli-Venus aus mir machen.«
»Muss ich gar nicht. Du bist entzückend, wie du bist.« Sie runzelte die Stirn. Dasselbe hatte Marina zu ihr gesagt. Konnte es sein, dass er es wirklich glaubte? »Ich meine es ernst. Ich möchte dich malen, bevor die Sonne untergeht.« Er warf die Decke auf den Rasen und bestand darauf, dass sie sich hinsetzte. Biscuit legte sich neben sie und rollte sich auf den Rücken. Offensichtlich hoffte er, dass jemand den Wink verstand und ihm den Bauch kraulte. Pat, Veronica und Grace gingen weiter zum Hotel und ließen die drei allein.
Rafa öffnete den Kasten mit seinen Ölfarben und nahm ein frisches Blatt Papier hervor.
»Was soll ich machen?«, fragte Clementine.
»Rede mit mir«, antwortete er und sah sie wieder auf diese eindringliche Weise an.
Sie seufzte. »Ich fürchte, er will uns ernsthaft malen«, sagte sie zu Biscuit.
»Nicht euch, dich«, korrigierte Rafa. Dann grinste er und wischte mit Pastellölfarbe über das Blatt. »Übrigens bist du eine sehr schöne junge Frau, Clementine. Aber du bist auch typisch britisch und kannst kein Kompliment annehmen. In meinem Land bedanken sich die Frauen, wenn ein Mann ihnen schmeichelt.«
»Na gut, danke.«
»Ist mir ein Vergnügen. Und jetzt sprich mit mir.«
Die Sonne schien einzig für Rafa über den Baumwipfeln auszuharren. Das Licht war weich und matt, die Luft aromatisiert von geschnittenem Gras und Geißblatt, und in den höchsten Ästen trällerten die Vögel ihr Abendlied.
»Ich habe getan, was du mir geraten hast, und mit Marina geredet«, sagte Clementine. »Weißt du eigentlich, dass du der einzige Mensch bist, der mir jemals einen richtigen Rat gegeben hat?«
»Das kann ich mir schwerlich vorstellen.«
»Doch. Du bist der Einzige, der je vorgeschlagen hat, dass ich mit ihr rede. Meine Freunde haben meine Geschichten geliebt, und ich muss beschämenderweise zugeben, dass ich es genossen habe, sie zu erzählen, maßlos zu übertreiben, bloß um Aufmerksamkeit zu bekommen. Meine Mutter war immer kleinlich
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