Der Zypressengarten
verliebte, war er verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Ich hätte weggehen und ihn seinem Unglück überlassen können, aber das habe ich nicht. Ich schätze, deine Mutter hat nie über die Bitterkeit gesprochen. Deinem Vater zufolge war eure Familie alles andere als intakt.
Grey und ich fanden uns, weil ich mich ebenfalls verloren fühlte. Ich erkannte die Einsamkeit in ihm, weil sie auch mich quälte. Der Altersunterschied zwischen uns war groß, und Grey war sehr gebildet, anders als ich. Doch wir hatten etwas gemeinsam, und zusammen fanden wir die Kraft, uns gegenseitig zu heilen. Ich hatte nie vor, ihn deiner Mutter wegzunehmen, und erst recht wollte ich keine glückliche Familie zerstören. Nur war eure Familie nicht glücklich, Clemmie, und am Ende hat unsere Liebe alles andere in den Schatten gestellt. Das lastet bis heute auf meinem Gewissen.
Was wir taten, war nicht richtig, obwohl wir das Gefühl hatten, dass es für alle das Beste war, auch für dich und Jake. Ich weiß nicht, ob Kinder mit unglücklichen Eltern besser dran sind als mit glücklichen Stiefeltern. Das kann ich dir nicht sagen. Aber du darfst sicher sein, dass dein Vater dich und Jake immer über alles geliebt hat, auch mehr als mich. Du hast es vielleicht nicht gefühlt, doch als kleines Mädchen hast du ihn jedes Mal weggestoßen, wenn er die Hände nach dir ausstreckte. Ich rechnete damit, dass du mich ebenfalls wegstoßen würdest, habe es aber trotzdem versucht. Du musst wissen, dass dein Vater dich bedingungslos liebt.«
Sie leerte ihr Glas und schluckte angestrengt, weil ihre Kehle so eng war, dass es wehtat. Dann blickte sie hinaus aufs Wasser, und Clementine spürte, wie sie erschauderte.
»Wie du weißt, Clementine, kann ich keine Kinder bekommen. Das ist mein größter Kummer und nagt Tag und Nacht an mir. Manchmal bewältige ich kaum den Alltag, so drückend ist der Verlust. Meistens stürze ich mich ganz in die Arbeit im Hotel und gebe ihm all die Zuwendung und Liebe, die ich einem Kind geben wollte. Es ist ein erbärmlicher Ersatz, aber der einzige, den ich habe. Du und Jake werdet nie meine Kinder sein. Ich habe euch quasi geerbt, und dafür danke ich dem Schicksal. Wir beide hatten es nicht leicht, aber das verstehe ich. Ich kann dir nie eine Mutter sein, und das hatte ich auch nicht erwartet. Allerdings würde ich sehr gerne deine Freundin sein.«
Clementine fing an zu weinen. Ihr ging jetzt erst auf, wie gründlich sie ihre Stiefmutter missverstanden hatte. Die Tatsache, dass die Ehe ihrer Eltern unvermeidlich in die Brüche gegangen wäre oder dass Marina und Grey eine Affäre hatten, war eigentlich von Anfang an nicht das Problem gewesen. Schälte man alles weg, was sie in ihrem Leben an Rechtfertigungen und Verbitterung um sich aufgebaut hatte, blieb im Kern nur Liebe und Clementines Überzeugung, nicht genug bekommen zu haben.
»Ich war ja so schrecklich egoistisch«, schniefte sie. »Ich habe die ganze Zeit bloß an mich gedacht und dass ich zu wenig beachtet werde. Gott, komme ich mir bescheuert vor!« Sie dachte an Rafa, der diesen Kern gleich erkannt hatte. »Ach, und, Marina …?«
»Ja?« Ihre Stiefmutter legte einen Arm um sie und drückte sie. »Was ist?« Clementine heulte zu sehr, als dass sie sprechen konnte. »Es ist okay, du musst dir keine Vorwürfe machen. Es ist nur natürlich, dass du so empfindest. Jedes Kind will, dass seine Eltern sich und es lieben, und zerrüttete Ehen …«
»Das ist es nicht.« Clementine wischte sich das Gesicht mit dem Jackenärmel und setzte sich auf.
»Ah, verstehe. Da ist noch etwas.«
»Ja. Ich bin verliebt. Ich bin sogar unsterblich verliebt und habe keine Ahnung, was ich machen soll.« Ihr stockte der Atem.
»Rafa?«
Sie nickte. »Ich weiß nicht, wie er zu mir steht. Mal denke ich, gleich küsst er mich, dann zieht er sich zurück. Ich habe keinen Schimmer, ob er zu jeder Frau so ist oder ich etwas Besonderes bin. Ich kenne ihn ja so gut wie gar nicht, und trotzdem bin ich verrückt nach ihm.«
»Ich will nicht behaupten, dass ich dein Interesse an ihm nicht bemerkt hätte. Aber ich habe euch zu selten zusammen gesehen, um zu beurteilen, was er für dich empfindet.«
»Heute hat er mir gesagt, dass ich besonders bin. Er hat meine Hände genommen und mir gesagt, ich bin wunderschön. Dann, als ich ihn fragte, ob er das zu allen Frauen sagt oder nur zu mir, hat er geantwortet, nur zu mir. Ich hätte schwören können, dass er sich zu mir lehnen und mich
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