Der Zypressengarten
küssen wollte. Er hat mich so eindringlich angeguckt. Aber dann sind wir aufgestanden und nach Dawcomb gefahren, wo er mich bei Joe abgesetzt hat. Er wusste, dass ich mit ihm Schluss machen wollte.«
»Und er hat nicht den Verdacht, dass er der Grund ist?«
»Ich glaube nicht. Er hat bloß gesagt, er sieht mir an, dass ich nicht in Joe verliebt bin.«
»Ja, ich denke, das war uns allen klar.«
»Und was mache ich jetzt?«
Marina zögerte nicht. »Überhaupt nichts.«
Clementine wunderte sich. Sie hatte einen längeren Vortrag darüber erwartet, sich nicht zu verfügbar zu zeigen.
»Du bist entzückend, Clementine, genau so, wie du bist. Er wäre ein Blödmann, dich gehen zu lassen.«
Clementine wollte schon wieder heulen, diesmal vor Glück. »Danke.« Sie umarmte ihre kleine zierliche Stiefmutter fest. »Ich bin so froh, dass wir Freundinnen sind.«
»Ich auch«, stimmte Marina ihr zu und schloss die Augen.
Als die beiden Frauen zum Stallblock zurückkehrten, war Grey noch auf und sah sich einen Dokumentarfilm über Meereslebewesen auf Sky an. Er war überrascht, die beiden mit roten Nasen und glänzenden Augen zu sehen. Wortlos ging Clementine auf ihn zu und schlang die Arme um seinen Hals. Sie drückte ihn eine Weile und küsste ihn auf die Wange. »Ich nehme ein Bad. Meine Füße sind eiskalt.« Verblüfft blickte Grey ihr nach, als sie aus dem Zimmer ging.
»Was hat sie genommen?«, fragte er Marina.
»Komm mit nach oben, dann erzähle ich es dir. Ich muss mich auch dringend aufwärmen.«
»Was zum Teufel habt ihr gemacht?«
»Lange Geschichte, aber ich fühle mich wunderbar.« Sie seufzte, als ihr die Last vieler schmerzlicher Jahre von den Schultern fiel, und grinste. »Das glaubst du nie.«
* * *
»Im Hotel ist der Bär los«, sagte Bertha, als sie am nächsten Morgen hereinkam und sich auf einen Küchenstuhl plumpsen ließ. »Ein Jammer, dass es so in der Patsche steckt.«
»Was meinst du damit?«, fragte Heather, die sich an ihrem Kaffeebecher festhielt.
»Ich hab gehört, dass ihnen das Geld ausgeht«, sagte Bertha leise. »Aber das hast du nicht von mir.«
»Und von wem hast du es?«
Bertha zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Ich halte die Lauscher auf. Anscheinend kommt irgendein Großkotz aus London, um ihnen ein Angebot zu machen.«
Heather fiel der Kinnladen herunter. »Bist du sicher?«
»Er ist jüdisch«, ergänzte Bertha mit hochgezogenen Brauen.
»Na und?«
»Jake sagt, Juden sind schlau. Sehr schlau.«
»Deshalb verkaufen sie doch nicht gleich das Hotel, wenn sie es nicht unbedingt müssen.«
»Tja, ich habe gehört, wie Jake drüben mit seinem Vater geredet hat, und für mich klang das, als wenn denen gar nichts anderes übrig bleibt.«
»Nur über Marinas Leiche. Sie gibt garantiert nicht kampflos auf. Was ist mit uns?«
»Weiß nicht. Ein paar entlassen sie bestimmt, aber nicht uns. Wir sind unermesslich.«
»Du meinst unersetzlich.«
»Sag ich doch, unersetzlich.«
»Du vielleicht, Bertha, aber bei mir bin ich nicht sicher. Meinen Job kann jeder machen.«
»Aber nicht jeder will den auch, nicht? Die brauchen Leute mit Erfahrung, die sich hier auskennen.«
»Hoffentlich hast du recht. Dann sperr mal weiter die Lauscher auf und sag mir Bescheid, wenn du noch was hörst, sei doch bitte so gut.«
* * *
Clementine war keine Künstlerin, doch wenn sie Zeit mit Rafa verbringen wollte, musste sie an seinem Kurs teilnehmen. Er war freudig überrascht, als sie oben an der Klippe auftauchte, um mit Pat, Grace und Veronica zusammen den Leuchtturm zu malen. »Ich habe dieses Wochenende sonst nichts vor«, erklärte sie und setzte sich mit Biscuit auf eine Decke.
Rafa gab ihr einen Skizzenblock und einige Wasserfarben.
Dann neigte er sich zu ihr und flüsterte: »Mit dir wird es sehr viel witziger für mich.«
»Ich bin allerdings richtig schlecht«, erwiderte sie, auch wenn sein Kompliment ihr ein Lächeln entlockte.
»Lähme deine Fähigkeiten nicht mit deiner negativen Einstellung.«
»Na ja, ich habe seit der Schule nicht mehr gemalt.«
»Du bist hier, um Spaß zu haben und diesen friedlichen Ort zu genießen. Ich wette, du hast noch nie hier gesessen und jede einzelne Welle, jede Wolke, jeden Grashalm und jede Blume beobachtet.«
Sie sah ihn fragend an. »Die meiste Zeit hetzen wir mit geschlossenen Augen durchs Leben, in endlose Gedanken vertieft. So entgeht uns der schlichte Zauber einer Butterblume im hohen Gras. Jetzt kannst du dir Zeit nehmen, dich mit
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