Der Zypressengarten
gemocht. Im Grunde habe ich mich selbst auch nie wirklich gemocht. Aber das tue ich jetzt.« Ein etwas schelmisches Lächeln trat auf ihre Züge. »Ich sehe die Welt mit anderen Augen. Und ich will mich nie wieder mit dem Zweitbesten zufriedengeben.«
Marina musste nicht fragen, wem dieser Sinneswandel zu verdanken war. Grey jedoch hatte nichts mitbekommen und blickte verwundert drein. »Das ist gut«, sagte er, während er ihr ein Glas Pinot Grigio einschenkte.
»Marina, ich würde gerne mit dir alleine reden. Macht es dir was aus, Daddy?«
»Dann gebe ich ihr mal noch ein bisschen Stärkung«, sagte er und füllte Marinas Glas nach. Die beiden Frauen standen auf.
»Gehen wir nach draußen«, schlug Clementine vor.
Marina verbot sich, hilfesuchend zu Grey zu sehen, so verlockend es auch war. Sie konnte seinen verwunderten Blick deutlich fühlen. Vermutlich wollte Clementine über Rafa sprechen, und Marina freute sich maßlos, dass das Kind sich endlich einmal ratsuchend an sie wandte. Später, wenn sie allein waren, würde sie Grey alles erzählen.
»Ich hole nur meine Jacke«, sagte sie und ging in den Flur.
»Ich auch. Es ist frisch draußen, aber sehr schön. Ich möchte unter den Sternen sitzen.«
Grey fiel die Veränderung in Clementines Tonfall auf. Die Art, wie sie »schön« sagte, klang anders, als würde es von Herzen kommen.
Der Abend war dunkel, aber samtweich. Ein steter Wind wehte vom Meer, der allerdings warm war und nach Salz und feuchtem Gras roch. Das Krachen der Wellen an den Felsen unten war nur als fernes, freundliches Grummeln zu hören. Der Mond schien hell und wurde nur hin und wieder von einer rasch vorüberziehenden Wolke verdeckt. Clementine und Marina gingen über den Rasen zu einer Bank, auf die sie sich setzten. Hier waren sie ziemlich ungeschützt, hatten dafür aber freien Blick auf das Meer und die weit draußen liegende Halbinsel, von der aus ein Leuchtturm sein warnendes Licht in die tintige Dunkelheit schickte. Beide Frauen zogen ihre Jacken fester um sich.
»Ich habe nie verstanden, warum du es hier so gerne magst«, sagte Clementine mit einem zufriedenen Seufzer. »Ich war ein typisches Stadtkind, fühlte mich auf Pflaster wohler als auf Gras. Aber jetzt ist mir, als hätte sich ein Schleier vor meinen Augen gehoben, und zum ersten Mal erkenne ich, wie außerordentlich schön es hier ist.«
»Ach ja?«
»Ja, und es gibt mir ein gutes Gefühl.«
»Die Natur ist ein Wunderheiler. Immer wenn ich unglücklich bin, komme ich hier raus und sauge sie in mich auf. Hinterher geht es mir verlässlich besser.«
Clementine trank einen Schluck Wein.
»Marina, ich möchte mich entschuldigen, weil ich so eine blöde Kuh war.«
Auch Marina nahm einen Schluck, perplex vom Geständnis ihrer Stieftochter. Sie konnte sich nicht erinnern, in all den Jahren, die sie Clementine kannte, jemals eine Entschuldigung von ihr gehört zu haben. Deshalb war sie nicht recht überzeugt und wollte lieber nichts sagen, ehe sie nicht sicher sein konnte, dass kein eigennütziges Motiv dahintersteckte.
»Ich weiß, was du denkst«, fuhr Clementine fort. »Und das habe ich verdient. An deiner Stelle würde ich mir auch nicht glauben. Aber es tut mir ehrlich leid. Seit ich klein war, denke ich, dass du meine Familie kaputt gemacht und meinen Vater unter Mummys Nase weggeschnappt hast. Und für mich war es, als hättest du ihn mir auch gestohlen. Aber jede Geschichte hat zwei Seiten, und ich möchte deine hören, wenn du sie mir erzählen willst. Ich möchte verstehen, wie du es siehst, und meine kindische Deutung loswerden. Inzwischen bin ich längst alt genug, um zu begreifen, dass nichts schwarz oder weiß ist.«
Marina wurde die Kehle eng, und sie musste ihre Tränen wegblinzeln, während sie Clementines Hand ergriff. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hätte nie gedacht, dass wir einmal die Chance haben würden, so zusammenzusitzen und ehrlich und offen miteinander zu sein. Du machst dir keine Vorstellung, wie lange ich mir schon wünsche, von Frau zu Frau mit dir zu reden und dich um Vergebung zu bitten.«
Clementine staunte, wie warm ihr ums Herz wurde. Für einen Moment fragte sie sich, ob es der Wein war, der sie so weich machte, aber dann fühlte sie die Wärme, die von Marinas Hand in ihre floss, und ihr wurde klar, dass es Liebe war, die das Eis zum Schmelzen brachte. »Du brauchst meine Vergebung nicht«, sagte sie leise.
»Doch, brauche ich. Als ich mich in deinen Vater
Weitere Kostenlose Bücher