Der Zypressengarten
würde mich freuen. Es wäre gut für dich, mal ein wenig raus und auf andere Gedanken zu kommen.«
»Ich wüsste gar, an was ich denken sollte. Dieses Hotel füllt meinen Kopf vollständig aus.«
»Das meine ich ja gerade.« Er stand auf. »Ich bin zum Mittagessen zurück. Viel Glück mit dem Hundekuchen.«
Sie verzog das Gesicht und seufzte hilflos. Als Grey an ihrem Stuhl vorbeiging, bückte er sich und küsste sie aufs Haar. Dort verharrte er einen Moment. Er fühlte ihre Sorge und wollte ihr zu gerne etwas von ihrer Last abnehmen. Genüsslich sog er ihren warmen Vanilleduft ein. »Was auch passiert, Schatz, wir stehen es zusammen durch.«
Sie legte eine Hand auf seine, als er ihre Schulter drückte. In seiner Berührung waren so viele unausgesprochene Worte, auf die sie keine Antwort wagen würde. In dieser Haltung blieben sie beide, ließen sich von ihrer gegenseitigen Liebe trösten. Dann küsste er sie wieder und ging.
Clementine wachte mit einer Horde sich bekriegender Nashörner im Kopf auf. Sie hielt sich eine Hand an die Stirn und wollte sie wegreiben. Vergebens. Während sie langsam zu sich kam, erschienen Fragmente der letzten Nacht vor ihrem geistigen Auge, bis ein höchst unerwünschtes Bild entstanden war. Sie stöhnte über ihre Idiotie. Nicht bloß hatte sie Joe erlaubt, sie zu küssen, was zu dem Zeitpunkt recht nett gewesen war, sondern sie hatte ihm auch noch alle möglichen anderen Dinge gestattet, an die sie sich nur noch vage und mit einem Anflug von Scham erinnerte. Sie rollte sich herum und zog sich ein Kissen über den Kopf. Waren sie wirklich aufs Ganze gegangen? Beschämenderweise wusste sie es nicht mehr.
Die Tür ging auf, und Marina kam herein. »Clementine, du musst aufstehen. Es ist Viertel nach acht.« Clementine gab vor, nichts zu hören, und rührte sich nicht. Marina trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Grelles Sonnenlicht knallte ins Zimmer. »Es ist wieder ein herrlicher Tag. Keine einzige Wolke am Himmel.« Sie näherte sich dem Bett und hob das Kissen an. »Ich weiß, dass du wach bist. War’s ein wilder Abend?«
»Zu viel Wodka im Dizzy Mariner«, murmelte Clementine.
»Ich mache dir einen starken Kaffee. Nimm eine kalte Dusche, dann fühlst du dich besser.«
»Ich will schlafen!«
»Ich rufe nicht an und sage, dass du krank bist.«
»Bitte!«
»Nein, keine Chance. Los, sonst kommst du zu spät.«
Clementine schlurfte ins Bad und guckte in den Spiegel überm Waschbecken. Ihr Gesicht war grau, und sie hatte Augenringe in der Farbe von Gewitterwolken. Noch dazu war ein hässlicher Fleck auf ihrem Kinn. Ihr schulterlanges Haar war wirr und verzistelt, als hätte darin ein Vogel genistet und versucht, sich freizukratzen. Vom zu intensiven Küssen waren ihre Lippen geschwollen. Gegen die roten Augen würden auch mehrere Ampullen Tropfen nicht helfen, und ihre Selbstachtung – sie tastete nach den Paracetamol – war durch nichts wiederherzustellen.
Einige Zeit später kam sie nach unten in die Küche, wo der Duft von frischem Kaffee und warmen Croissants ihre halb toten Lebensgeister ein wenig aufmunterte. Marina saß am Tisch und las die Vogue. In ihrer beigen Hose, der bunt geblümten Bluse und mit den hohen Schuhen mit Keilabsatz an ihren kleinen Füßen sah sie elegant und selbstsicher aus. Sie blickte von ihrer Zeitschrift auf und lächelte mitfühlend. »So ist es besser.« Aber nur rudimentär. Clementine hatte mit reichlich Grundierung und Kajal gearbeitet.
»Ich hätte nicht so viel trinken dürfen.«
»Wir alle machen mal blöde Sachen.«
»Ach, ich weiß nicht, Marina. Du siehst nicht aus, als hättest du in deinem Leben schon mal was Dämliches gemacht.«
»Du würdest dich wundern.«
»Ja, würde ich.« Clementine konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Stiefmutter sich jemals betrunken von einem vierschrötigen Handwerker befummeln ließ. Sie schenkte sich selbst Kaffee ein und knabberte am Zipfel eines Croissants. Ihr war schlecht vor Scham. Gerne hätte sie darüber geredet, doch Marina war der letzte Mensch auf dem Planeten, der das verstehen würde. Während sie kaute, befiel sie eine neue Angst. Was, wenn er kein Kondom benutzt hatte? Was, wenn sie schwanger wurde? Was, wenn er irgendeine Geschlechtskrankheit hatte? Sollte sie zum Arzt gehen?
Marina schien ihr Elend zu bemerken. »Ist alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«
»Doch, bestens. Ich bin nur verkatert.«
Marina war nicht überzeugt. »Wenn es dir wirklich
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