Der Zypressengarten
Kinder sind ein Segen! Man kann gar nicht das Gefühl haben, wirklich auf der Welt gewesen zu sein, wenn man keine Nachkommen gezeugt hat. Ich sterbe in der Gewissheit, dass mein Stammbaum weiterwächst. Wir haben nicht umsonst gekämpft, obwohl die meisten jungen Leute nicht zu schätzen wissen, dass wir es für sie taten. Ohne uns würden die heute Deutsch sprechen und vor einem Haufen Hunnen katzbuckeln! Gott verdammt!« Er verschluckte sich an seinem Lachen, hustete laut und räusperte sich mehrmals. »Wo wir bei Kindern sind, wie geht es Ihren? Dieser Jake wird immer größer.« Marina brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass es nicht ihre Kinder waren.
Das Gespräch mit dem Brigadier hatte sie von der bevorstehenden Ankunft ihres Bewerbers abgelenkt. Als Jake durch den Saal auf sie zukam, hatte sie es schon fast vergessen. »Ah, wenn man vom Teufel spricht!«, sagte der Brigadier.
Marina bemerkte Jakes seltsamen Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Amüsement und Begeisterung.
»Guten Morgen, Brigadier. Marina, der Keks ist da.«
»Was soll dieser komische Blick?«, fragte sie, während sich ihr Magen zusammenkrampfte.
»Welcher komische Blick? Er ist in deinem Büro.«
»Und? Ist er … normal?«
»Nein, ich würde sagen, kein bisschen normal.«
»Du willst mich ärgern.«
»Geh rein und guck ihn dir an.«
»Was ist das mit dem Keks?«, unterbrach der Brigadier. »Hört sich gut an, würde ich sagen, vor allem mit ein bisschen Vollmilchschokolade obendrauf.«
Marina kam in die Halle, um Shane, Jennifer, Rose, Heather und Bertha in einer Traube zusammenstehen und wie die Schulkinder kichern zu sehen. Sowie sie Marina bemerkten, stoben sie schuldbewusst auseinander. Es herrschte eindeutig allgemeine Aufregung, als wäre der Weihnachtsmann sieben Monate zu früh eingetrudelt und hätte es sich in Marinas Büro bequem gemacht.
»Soll ich Kaffee bringen?«, fragte Heather, deren Wangen glühten.
Marina runzelte die Stirn. »Nein, warten wir ab, was er möchte.«
»Für mich sieht der wie’n Kaffeetrinker aus«, sagte Bertha.
»Und was führt dich hier rüber, Bertha?«, fragte Marina.
»Viss ist alle«, antwortete sie selbstzufrieden. »Und wie zufällig gerade jetzt.«
»Dann holst du dir am besten neues aus der Kammer. Heather, kommt bitte mit mir, und ihr anderen dürft wieder an eure Arbeit gehen.«
Marina war ein wenig optimistischer, als sie in ihr Büro ging. Die geröteten Wangen ihres Personals ließen auf jeden Fall den Schluss zu, dass der Künstler gut aussah. Was Marina nicht weiter verwunderte, denn argentinische Männer waren berühmt für ihr gutes Aussehen. Allerdings war sie nicht auf die stille Anziehungskraft von Rafael Santoro vorbereitet.
Er stand am Fenster, die Hände in den Taschen, und blickte gedankenverloren hinaus aufs Meer. In seiner hellen Wildlederjacke, dem blauen Hemd und der ausgeblichenen Jeans wirkte der mittelgroße, breitschultrige Mann athletisch. Seinem Profil nach schloss Marina, dass er in den Dreißigern sein musste. Seine Haut war wettergegerbt, das Kinn streng, und das hellbraune Haar fiel ihm in die breite, von Längslinien gezeichnete Stirn. Als er sie hereinkommen hörte, schien er für einen Moment zu zögern, sich sammeln zu müssen, ehe er sich umdrehte. Marina fielen seine Patriziernase und die kantigen Züge auf, und sie war voller Bewunderung. Er war zweifellos gut aussehend. Und als er sie ansah, war sie sofort gebannt von seinen Augen. Sie waren toffee-braun und tief liegend, doch der Ausdruck in ihnen bewirkte, dass Marina der Atem stockte. Dieser Blick war beinahe vertraut und brachte Marina ins Stammeln.
»Es … Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er und reichte ihr die Hand. Sein Akzent war so weich und warm wie karamellisierte Milch.
Marina nahm seine Hand, worauf die Hitze seiner Haut ihren Arm hinaufströmte.
»Ich glaube, Sie sind der erste Argentinier im Polzanze.« Etwas Besseres wollte ihr nicht einfallen.
»Das wundert mich. Südamerikaner reisen gern und viel.«
»Nun, es ist jedenfalls schön, dass Sie hergekommen sind«, sagte sie und wandte das Gesicht ein wenig ab. Sein Blick war zu schwer zu ertragen. »Es ist nett, zur Abwechslung mal einen fremden Akzent zu hören.«
»Ich hätte gedacht, dass ein solch schöner Ort Leute aus der ganzen Welt anlockt.«
»Sie schmeicheln mir.«
»Das war meine Absicht«, erwiderte er mit einer Gelassenheit, dass sie es
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