Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
zu untersuchen beginnt, hat vorher zumindest den Ansatz eines Gedankengangs formuliert, der ihn dazu bringt, einer bestimmten Hypothese eher zu folgen als einer anderen.
Daher will ich die »narrativen« Gründe meines Vorurteils nennen. Der Terminus »narrativ« ist hier nicht einschränkend zu verstehen. Ich gehöre zu denen, die der Ansicht sind, daß narrative Bedingungen jeden Akt des Verstehens lenken, nicht nur in der Geschichtsforschung, sondern auch in der Wahrnehmung; um ein beliebiges Phänomen zu begreifen, versuchen wir stets, eine irgendwie »kohärente« Abfolge zu erkennen. Wenn im Frühjahr eine Blume auf der Wiese wächst, die früher nie dort zu sehen war, dann ist es kohärenter und »ökonomischer« anzunehmen, daß im letzten Herbst irgendein natürliches Agens einen Samen dorthin gebracht hat, als anzunehmen, in der Nacht sei ein geisterhafter Gärtner gekommen und habe sie dort hingepflanzt. Die erste Geschichte ist wahrscheinlicher als die zweite und wird daher lieber als Hypothese genommen.
Kommen wir nun zur Geschichte von Sofri und Lotta Continua. Jedem, der seinerzeit die Zeitung Lotta Continua gelesen hatte, gleich ob er ihre Ansichten teilte oder nicht, ist ein typisches Merkmal dieses Blattes und der gleichnamigen Gruppe aufgefallen. Während die anderen Publikationen der Achtundsechzigerbewegung sich meistens einer doktrinären Sprache bedienten oder, in krasseren Fällen, sich in Beschimpfungen ergingen, hatte Lotta Continua einen neuen journalistischen Ansatz erfunden, im Gebrauch der Sprache, im Wortschatz, in der Syntax, im Formulieren der Überschriften. Es ist keineswegs ein Zufall, daß eine beträchtliche Anzahl ehemaliger Führungskader der Gruppe heute bekannte Figuren des Journalismus sind (was auch erklärt, warum die Solidarität mit Sofri so medienwirksam geworden ist). Lotta Continua, als Zeitung und Gruppe, hatte einen im Panorama der Achtundsechziger einzigartigen journalistischen Ansatz, den wir, ohne ihr zu nahe zu treten, als »persuasiv« definieren können. Ihre Sprache war medial und hatte das Hauptkennzeichen der Massenmedien: Der Adressat muß rhetorisch bearbeitet, gepackt, mitgerissen, verführt, überredet werden, man darf seinen Konsens nie voraussetzen, sondern muß ihn herbeiführen. Der persuasive Aspekt, ich möchte fast sagen, der wache Blick für die Reaktionen des Publikums war das charakteristische Merkmal, das Lotta Continua von den anderen Gruppen der Bewegung unterschied.
Was war nun das politische Projekt der Gruppe in der Affäre Calabresi? Es scheint mir evident: Sie wollte den verhaßten Kommissar delegitimieren, ihn auf die Anklagebank zerren wegen Mordes an dem Anarchisten Pinelli, oder wenigstens so viele Leute wie möglich von seiner Schuld überzeugen, um mit ihm die Macht zu delegitimie-ren, zu deren Symbol sie ihn erkoren hatte. Man kann Lot-ta Continua vorwerfen, das falsche Symbol gewählt zu haben, unerbittlich und gnadenlos gewesen zu sein, sich ihren Schuldigen selbst gezimmert zu haben, dabei so weit gegangen zu sein, viele zu einem irrationalen Haß auf ihn getrieben zu haben, man kann ihr alles vorwerfen, aber man muß zugeben, daß dies ihr Projekt war.
Deshalb brauchte Lotta Continua einen lebendigen, extrem gut zu beschuldigenden Calabresi, seine Präsenz war geradezu eine Bedingung ihres Überlebens. Und da die Redakteure der Zeitung und die Anführer der Gruppe einen ausgeprägt massenmedialen Sinn hatten, konnten sie nicht übersehen, daß ein getöteter Calabresi das genaue Gegenteil dessen geworden wäre, was sie wollten: nicht mehr ein Schuldiger, sondern ein Opfer, nicht mehr der Böse, sondern der Held. Dies jedenfalls sagte ihnen sowohl der Common Sense wie der journalistische Sinn. Gewiß kann niemand eine Wahnsinnstat ausschließen, aber bisher hatte ich nicht den Eindruck, daß im Prozeß Sofri eine Geisteskrankheit aufs Tapet gebracht worden wäre. Anders ausgedrückt, wenn heute ein mysteriöser Täter reihenweise Bomben in Kinos legen würde, könnten wir alle möglichen Leute verdächtigen, sogar die unverdächtigsten, aber die letzten, die wir verdächtigen dürften, wären die Filmproduzenten und die Kinobesitzer. Sie hätten kein Interesse an einer solchen Tat, im Gegenteil, sie würden als erste darunter leiden.
Ich verstehe, daß die Überlegung: »Calabresi nützte ih-nen als Lebender, damit sie ihn symbolisch töten konnten, nicht als Toter, den sie hätten bedauern müssen«, sehr zynisch
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