Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmass
Buch umgestellt, abgestaubt oder auch bloß ein Stück zur Seite geschoben haben, um ein anderes besser herausziehen zu können, etwas von seinem Inhalt über unsere Fingerkuppen in unser Hirn übertragen, wir haben es also gewissermaßen taktil gelesen, als ob es in Blindenschrift gedruckt wäre. Ich bin ein Anhänger des CICAP und glaube nicht an paranormale Phänomene, aber in diesem Fall schon, auch weil ich das Phänomen gar nicht für paranormal halte. Im Gegenteil, es ist stinknormal und wird von der Alltagserfahrung bestätigt.
Zweite Erklärung: Es stimmt gar nicht, daß wir das frag-
* Comitato Italiano per il Controllo delle Affirmazioni sul Paranormale (Ital. Komitee zur Kontrolle der Behauptungen über das Paranormale), Mitglied des European Council of Skeptical Organisations; Genaueres unter www.cicap.org (A. d. Ü.).
liche Buch nie gelesen haben. Jedesmal, wenn wir es verschoben oder abgestaubt haben, haben wir einen kurzen Blick darauf geworfen, die Umschlagbanderole gelesen, es irgendwo aufgeschlagen und ein paar Seiten überflogen, und so haben wir nach und nach einen großen Teil absorbiert. Dritte Erklärung: Im Lauf der Jahre haben wir andere Bücher gelesen, in denen von diesem die Rede war, so daß wir, ohne es uns bewußt zu machen, gelernt haben, was es zu sagen hatte (sei’s daß es sich um ein berühmtes Buch handelte, von dem alle gesprochen haben, oder um ein banales, dessen Ideen so gewöhnlich sind, daß wir sie fortwährend anderswo gefunden haben).
In Wahrheit glaube ich, daß alle drei Erklärungen richtig sind und miteinander interagieren. Man liest andere Bücher, ohne zu merken, daß man dabei auch irgendwie dieses liest, und schon bei der bloßen Berührung spricht etwas in der Graphik, in der Konsistenz des Papiers, in der Farbe von einer Epoche, von einem bestimmten Ambiente. All diese Elemente gemeinsam »gerinnen« auf mirakulöse Weise und wirken zusammen, um uns jene Seiten vertraut zu machen, die wir, streng genommen, nie gelesen haben.
Wenn daher eine Bibliothek dazu dient, den Inhalt nie gelesener Bücher kennenzulernen, dann ist das, worüber wir uns Sorgen machen sollten, nicht das Verschwinden des Buches, sondern das Verschwinden der häuslichen Bibliotheken.
1998
Keine Angst vor dem Hypertext
Gespräch mit einem Schriftstellerfreund, der leicht verstört von einem Kongreß zurückkommt, wo er von »Hypertexten« hat reden hören. Ein Hypertext ist jene Teufelei, die dem Benutzer eines Computers erlaubt, im Innern eines gegebenen Textes zu »navigieren«, indem er gleichzeitig mehrere Teile davon durchsieht, verschiedene Stellen in Beziehung zueinander setzt, Kreuzungen, Verbindungen, Knotenpunkte entdeckt ... Das ist sehr nützlich für eine Vielzahl von Dingen, besonders wenn man etwas nachschlagen muß oder für didaktische Zwecke, aber mein Freund hat davon im Zusammenhang mit literarischen Aktivitäten gehört.
»Die sagen, die Art des Lesens werde sich verändern. Jeder könne dann in einem Werk herumsegeln, wie’s ihm paßt. Eine neue Kunstepoche werde entstehen.« Offensichtlich fürchtet er, daß er selbst bald zum alten Eisen gehört. Ich versuche ihn zu beruhigen. Mit einem guten Hypertext könne man beispielsweise in der Göttlichen Komödie alle Verse finden, die mit »antwortete er« (rispuose) enden (es sind 14, falls es jemanden interessiert), und sie sich sogar hintereinander ausdrucken lassen, als wär’s eine Litanei mit immer demselben Reim. Doch wenn jemand einen ganzen Gesang in Ruhe lesen will, hält er sich besser an eine gedruckte Ausgabe, denn am Bildschirm verdirbt man sich leicht die Augen.
»Die sagen, es werde schließlich Romane mit vielfältigen Verzweigungen, Ausgängen und Enden geben, und dann werde sich jeder seinen eigenen Roman drucken .« Keine Sorge, entgegne ich, außerdem brauche man dazu keinen Hypertext, das habe man auch schon mit einem kleinen Basic-Programm machen können, das sei es nicht, was die Leute wollen. »Wieso?« fragt er mich. O heiliger Bimbam, diese Intellektuellen! Der einzige Sport, den sie treiben, ist die Pflege der Furcht, das Buch gehe schlechten Zeiten entgegen. Seit den Tagen der Keilschrift kommen sie immer wieder darauf zurück. Hör zu, sage ich zu ihm, hier ist das letzte Buch von Jurij Lotman, Kultur und Explosion (Feltrinelli). Es ist nicht nur die neueste Übersetzung, es ist auch ein ganz neues Buch, denn es ist gerade erst dieses Jahr in Rußland erschienen. Es handelt von
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